Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
sie sich trennen musste! Und von dem schönen Mercedes, einem Geschenk von Heinrich, der ihr – samt Führerschein – weggenommen wurde!
Ein besonders traumatisches Kapitel war Harrys «Dienstverpflichtung» zur Müllabfuhr gleich nach dem Abitur. Müllabfuhr … Das Symbol des Abstiegs selbst. Ich höre den Ekel in Lilli Ernsthafts Stimme, die damit endgültig aus dem wohlbehüteten Kokon der Privilegierten meiner Straße herauskatapultiert wurde: «Da damals die Mülltonnen noch auf den Schultern getragen werden mussten, ging er stets sonntags in den Keller und übte, die fast vollen Tonnen auf die Schultern zu hieven. Einmal, als Harry mittags bereits todmüde war, streckte er sich auf dem Müll aus und schlief. Als er erwachte, sah er eine Ratte über seinen Bauch davonlaufen. Die Müllfahrer müssen zumeist keine Nazis gewesen sein. Obwohl es ihnen verboten war, sich mit jüdischen Hilfskräften privat zu unterhalten, hat einmal einer zu ihm gesagt: ‹Mach dir nichts draus, Junge. In ein paar Jahren seid ihr wieder feine Herren, und wir fahren immer noch Müll.›»
Sie beschrieb die Deportation der Juden meiner Straße: «Eines Tages, als Harry gerade in der Badewanne saß, klingelte es, und als ich die Tür öffnete, standen zu meinem Entsetzen zwei Gestapomänner vor der Tür und verlangten Harry Ernsthaft zu sprechen. Zu Tode geängstigt, sagte ich ihnen, dass mein Sohn gerade bade, ich ihn aber sofort rufen würde. Als Harry im Bademantel vor ihnen erschien, forderten sie ihn auf, sich schnell anzuziehen und mit ihnen in unser Hinterhaus zu gehen, wo im ersten Stock ein altes jüdisches Geschwisterpaar, Bruder und Schwester, auf gepackten Koffern saß. Sie waren zum Abtransport in den alten Tempel in Moabit bestellt worden. Die alten Leute waren zu schwach, die Koffer selber zu tragen, und deshalb war Harry von der Gestapo als Gepäckträger ausersehen worden. Man kann sich vorstellen, in welcher Verfassung mein Mann und ich zurückblieben, von der Angst gepeinigt, dass sie unseren Sohn gleich dortbehalten würden. Wir saßen zitternd vor Furcht in unserem Schlafzimmer. Um zehn Uhr abends kam Harry endlich zurück. Er war sichtlich verstört und gab uns auf unsere Fragen nur ausweichende Antworten, um uns nicht noch mehr zu ängstigen. Wir hörten später, dass sich dort fürchterliche Szenen abgespielt hatten.»
Einige Tage später besuchten Heinrich und Lilli Ernsthaft ihre Nachbarn, die Grunds, die in einer Parallelstraße wohnten. «Plötzlich klingelte es an der Tür. Herr Grund öffnete. Und wir hörten: Gestapo! Mein Mann und ich flüchteten schnell in ein hinteres Zimmer. Zu unserem Entsetzen wurden Herr und Frau Grund abgeholt. Man kann sich vorstellen, was für ein entsetzliches Erlebnis dieser Abend für uns war. Frau Grund war eine bildschöne, hochgewachsene Blondine, die arischer aussah als die meisten Arierinnen. Wir erhielten von ihnen noch Post aus Polen, wo Frau Grund als Kellnerin deutsche Soldaten bediente. Sie sind beide umgekommen.»
Mit dem mondänen Leben in der Nummer 3 war es vorbei: «Wir zogen uns immer mehr in unsere vier Wände zurück. Mein Mann, der kurz vor Ausbruch des Krieges siebzig Jahre alt wurde, fühlte sich seelisch und körperlich immer schlechter. Er, der früher ein glänzender Tänzer war, ging jetzt gebückt am Stock.» Harrys Bar-Mizwa, die Lilli Ernsthaft in ihrer Assimilierungsbemühung lieber mit dem protestantischen Wort «Einsegnung» bezeichnete und die im «Tempel» in der Prinzregentenstraße stattfand, war «die letzte größere Festlichkeit mit dem Rabbiner und sehr vielen lieben Gästen in der Wohnung, bevor mehrere Räume beschlagnahmt wurden, um jüdische Familien unterzubringen, die dort versammelt wurden, bevor sie nach Auschwitz deportiert wurden». Die Wohnung der Ernsthafts verwandelt sich in ein Minighetto. In dem einen Vorderzimmer ein alter Herr, in dem anderen ein Ehepaar Winter und in dem Mädchenzimmer der Sohn des Ehepaars, Rudi. Er war gleich alt wie Harry und machte eine Lehre zum Optiker. Die Ernsthafts lebten zu dritt in ihrem Schlafzimmer. «Man kann sich vorstellen, dass es mit der Küchen- und Badbenutzung einige Probleme gab. Aber es waren alle friedfertige Menschen, und wir haben uns gut vertragen. Die in unserer Wohnung einquartierten Glaubensgenossen wurden nach und nach deportiert. Immer wieder konnte man auf der Straße Lastwagen fahren sehen, in denen Juden zum Abtransport gesammelt wurden.»
Der Stille
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