Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Portier in der Eingangshalle erweckt diese Mitbewohner wieder zum Leben, die Lilli Ernsthaft zu vergessen sich gezwungen hatte.
Lilli und Heinrich Ernsthaft sind der Deportation entgangen. Am 15 . September 1942 um 22 Uhr wurden sie mit zwei gepackten Koffern ins Jüdische Krankenhaus in der Iranischen Straße gebracht. Eine «Übersiedlung». «Der Transport», berichtet Lilli, «erfolgte nicht etwa mit einem Personenauto, sondern mit einem Lastwagen.» Das Jüdische Krankenhaus bildete eine Insel im Nazi-Sturm, «ein KZ mit menschlichem Antlitz!», ironisiert Lilli Ernsthaft. «Doktor Goebbels hatte einige Zeit vorher eine Erklärung veröffentlicht, wonach alte und kranke Juden, 250 an der Zahl, vorerst im Jüdischen Krankenhaus Aufnahme finden sollten. Ich habe mich immer gefragt warum.» Das Krankenhaus ist die einzige jüdische Einrichtung, die samt jüdischen Ärzten, Krankenschwestern und Patienten die Nazi-Zeit überlebte. Der Klinikbetrieb blieb die ganze Zeit aufrechterhalten. Um die 800 Juden überlebten. Ein Refugium inmitten der Hauptstadt des Dritten Reichs, «eine Attrappe», sagt Lilli Ernsthaft, «um der ganzen Welt zu zeigen, wie gut die Nazis ihre Juden behandelten.» Regelmäßig kam ein Mitarbeiter von Adolf Eichmann, dem Organisator der «Endlösung», vorbei. Diese Besuche dienten dazu, mit Dr. Lustig, dem Krankenhausdirektor, nach dem Zufallsprinzip jene auszuwählen, die deportiert werden sollten.
Lilli Ernsthaft wurde Sekretärin des Verwaltungsdirektors. Die Ernsthafts bewohnten ein winziges Zimmerchen im Erdgeschoss: «Ein Schreckenserlebnis, das sich allwöchentlich wiederholte, war der Besuch der Gestapo. Dann mussten sich zahlreiche Insassen in Reih und Glied auf dem Hof aufstellen, und der Krankenhausdirektor Dr. Lustig mitsamt den Gestapobeamten standen vor ihnen und zeigten mit dem Finger auf die Personen, die abtransportiert werden sollten. Das muss der Grund sein, warum Dr. Lustig gleich nach Kriegsende von den Russen vermutlich als Kollaborateur erschossen wurde. Es ist mir heute noch ein Rätsel, warum weder mein Mann noch ich uns mit den anderen auf den Hof stellen mussten. War es ein Zufall oder eine Sympathiekundgebung von Dr. Lustig, dass wir von diesen Selektionen verschont blieben?»
Ende 1943 kam Elsbeth Doller, Lilli Ernsthafts Mutter, zu Besuch, um sich von ihrer Tochter zu verabschieden. Elsbeth Doller hatte die Erlaubnis bekommen, vor ihrer Deportation nach Theresienstadt im Jüdischen Krankenhaus ihre Zähne pflegen zu lassen. Lilli erinnerte sich noch an die letzten Worte ihrer Mutter: «Lilli, du hast ja schon ein paar graue Härchen!», an ihr Lächeln und ihre munteren kleinen Handzeichen, als der Lastwagen sie wegführte: «Das war das letzte Mal in diesem Leben, dass ich meine Mutter gesehen habe.»
Einzig die Anwesenheit einiger Mitglieder der Hautevolee im Keller des Krankenhauses während der «Bombenschwärme, die auf Berlin niedergingen», konnte Lilli Ernsthaft ein wenig aufheitern: «Die Kranken lagen Tag und Nacht im Keller. Unter ihnen befanden sich einige prominente Persönlichkeiten wie etwa Theodor Wolff, der langjährige Chefredakteur des ‹Berliner Tageblatts›, und Ludwig Katzenellenbogen, ein in der Bierbranche bekannter Mann, der einstige Ehemann der berühmten Schauspielerin Tilla Durieux, schillernder Star der Berliner Bühnen. Beiden erwies ich dann und wann Liebesdienste, indem ich sie fütterte oder ihnen Gesellschaft leistete.»
Harry verbringt zwei Jahre, von März 1943 bis April 1945 , versteckt im Keller bei seinem früheren Kinderfräulein Grete Rönnfeldt in Neuenhagen bei Berlin. Grete Rönnfeldt lebt mit ihren drei Töchtern in einem Einfamilienhaus. Der Mann Fritz ist an der Front. «Selbstverständlich», hat Grete Rönnfeldt geantwortet, als ihre ehemalige Herrin sie fragte, ob sie ihren Sohn verstecken könne. «Aber selbstverständlich war es beileibe nicht, dass eine Familie mit drei kleinen Kindern ihr Leben und ihre Existenz riskierte, um einen illegal lebenden Juden zu retten», betonte Lilli.
Grete erzählt den Kindern, Harry sei ein Kamerad ihres Vaters, aber niemand dürfe wissen, dass er im Hause ist, sonst würden ihre Eltern getötet und sie selbst kämen in ein Waisenhaus, und das wollen sie doch nicht, oder? Auch die Großeltern, die ein Häuschen nebenan haben, dürfen nichts von Harrys Anwesenheit erfahren. Eines Tages, als der Schatten «eines männlichen Wesens» vor dem Fenster des
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