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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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1939 , zehn Tage vor Kriegsbeginn, mit einem sog. ‹Kindertransport› nach London zu schicken.» Die Eltern und die Schwester von Klaus-Peter Wagner schafften es nicht mehr, Deutschland rechtzeitig zu verlassen, «sodass leider alle deportiert und ermordet worden sind». Seine Tante Anny nahm sich eines Nachts in London das Leben. Onkel Louis hat es niemals überwunden.
    Wolfgang Simon, Sohn eines nach Auschwitz deportierten Kurzwarenhändlers, der Klarinettist und Musikdirektor geworden ist, schickte einen Luftpostleichtbrief aus Randwick. Er hatte in der Nummer  6 gewohnt. Er beschrieb mir meine Straße: «Es gab wenig Geschäfte, unter anderem einen Herrenfriseur im letzten Haus vor dem Platz, dessen Namen ich vergessen habe. An der Ecke der Hauptstraße war eine Kneipe, die auch als Wahllokal benutzt wurde. Während der letzten – jedenfalls in Berlin – freien Reichstagswahl stand ich auf unserem Balkon, als ein Lastwagen voller Reichswehrmänner mit einer riesigen schwarzrotgoldenen Fahne die Straße entlangfuhr. Durch das Sprachrohr riefen sie: ‹Von der Ostsee bis zur Schweiz trägt jeder ein Hakenkreuz!› Ich war erst 9  Jahre alt, aber ich erinnere mich daran, als ob es gestern passiert wäre. In unserer Straße konnten die Nazis keinen Blumentopf gewinnen. Es gab nur vereinzelte Hakenkreuzfahnen. Ich kannte so viele Deutsche, die das Regime genauso hassten wie wir, und uns persönlich hat niemand jemals was getan. Einige Berliner haben meine Eltern mit Butter, Kaffee und Milch während des Krieges versorgt und haben sie, soweit das möglich war, unterstützt. Das werde ich nie vergessen.»
    Jochanan Beer schrieb mir aus Haifa. Er hatte bei seinen Großeltern Martha und Gustav Beer in der Nummer  19 gelebt, «in dieser so gepflegten Straße, etwas links gebogen, mit den Häusern, die wie Soldaten standen». Nach der Abreise ihres Enkelsohnes nach Palästina wurden Martha und Gustav Beer «verwiesen». Die Wohnung musste für Bombengeschädigte freigemacht werden. Sie wurden nach Theresienstadt deportiert, wo beide umgekommen sind. Ihrem Sohn Fritz gelang es zu fliehen, als die Gestapo seine Eltern holen kam. Er starb mit 104 ¾ Jahren in New York. Er stolperte eines Nachts auf dem Weg zur Toilette und schlug sich den Kopf auf.
    Jochanan Beer fügte seinem Brief ein winziges Foto der Nummer  19 bei, das er bei seiner ersten Rückkehr nach Berlin gleich nach dem Krieg aufgenommen hat: «Für mich war alles fremd. Ich habe kein Gefühl gehabt. Ich habe das Haus fotografiert, und dann bin ich zum Friseur auf dem Platz gegangen. Die Großeltern hatten ihren Schmuck beim Friseur deponiert. Ich kam in englischer Uniform, sehr grob, sehr frech aufgetreten, weil ich den Verdacht hatte, er sagt: Ich hab gar nichts. Er war aber ehrlich. Vielleicht aus Angst. Was mit den Möbeln und Gold- und Silbersachen geschehen ist, das weiß kein Mensch. Das Kapitel dieser Straße ist für mich abgeschlossen. Was neu gebaut ist, stört meine Erinnerungen an die Zeit damals. Theresienstadt, das ist das Ende des Kapitels unserer Straße.» Und Jochanan Beer schloss: «Meine Frau und ich leben bescheiden und gesund, fügen uns unseren Ärzten, um zu versuchen das Kapital, das wir noch haben an Seele und Körper, zu behalten. Wir sind dankbar für jeden Tag, den wir in Ruhe mit unserer großen Familie genießen dürfen.»
    Erica Gorin aus Forest Hills fragte mich: «Was interessiert Sie? Mein Englisch ist besser als mein Deutsch. Viele Grüße.» Die zarten Buchstaben berührten kaum das Papier. Sie unterschrieb mit Erica Lang und Erika Lange. Sie hatte die beiden Namen übereinander gesetzt. Den Immigrationsnamen oben und den der Berliner Kindheit unten. Ihr zweiter Brief, in den Computer getippt, war auf Englisch. Sie erzählte mir, sie habe drei Jahre in meiner Straße gelebt, von 1933 bis 1936 . In der Nummer  21 . Mit ihrem Vater Hermann, Inhaber eines Unternehmens für Trikotagen en gros, ihrer Mutter Emmy und ihrem kleinen Bruder Hans-Ludwig, genannt Hänschen: «Das Haus, in dem wir lebten, war genauso wie alle andern der Straße. Ich glaube, wir wohnten im zweiten Stock. Es gab nichts Besonderes in der Straße. Ich kann mich an keinerlei Details von Läden usw. erinnern. Einmal saß ich mit meinem Bruder auf dem Platz auf einer jüdischen Bank, und Kinder warfen mit Steinen nach uns. Ich weiß nicht, was schlimmer war. Der Schmerz oder die Demütigung.»
    An Feiertagen, so erinnert sich Erica Gorin, begab sich

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