Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Senat zweimal jährlich für die letzten noch lebenden, in alle Welt zerstreuten Berliner Juden herausgibt: «Wer wohnte in meiner Straße?» Die Leser sind nicht mehr sehr zahlreich. Nur 7758 Abonnenten. Und mit jedem Jahr werden es ein paar Dutzend weniger. Die meisten leben in den Vereinigten Staaten oder in Israel. «Aktuell» bietet ihnen eine dürftige Verbindung mit dem Berlin ihrer Kindheit. «Wir berichten, was in Ihrer Heimat geschieht», verspricht die Redaktion. Was absurd ist, weil die große Mehrheit von ihnen keine deutsche Staatsangehörigkeit mehr hat und nach Kriegsende nur ein oder zwei Mal für einen kurzen Besuch nach Berlin gekommen ist. Zynischerweise könnte man sagen, sie seien als «Touristen» gekommen. Sie haben ihr Leben anderswo neu aufgebaut. Und sie haben nie auch nur einen Augenblick daran gedacht, wieder in Berlin zu leben. Es war zu viel geschehen.
Meine Suchanzeige erschien auf der vorletzten Seite. Ein lachsfarbener Kasten. Ich machte mir keine Illusionen und vergaß dieses von vornherein zum Scheitern verurteilte Unternehmen augenblicklich wieder.
Bis zu dem Nachmittag, als ich nach Hause kam und auf meinem Anrufbeantworter die dröhnende Stimme der Miriam Blumenreich hörte. «Hallo, hallo, hier spricht Miriam Blumenreich aus Kiryat Bialik in Israel! Ich bin am 3 . September 1922 in der Nummer 3 geboren. Rufen Sie mich zurück!» Miriam Blumenreich war nicht die Einzige. Dreizehn haben auf meine Anzeige geantwortet. Aus New York, Berkeley, Boca Raton, Lexington, Haifa und Randwick kamen Lebenszeichen von ehemaligen Bewohnern meiner Straße. Briefe in kleiner, krakeliger Schrift und altmodischem Deutsch. E-Mails auf Englisch. Zitternde, kaum hörbare Stimmen auf dem Anrufbeantworter.
Da war der winzige Umschlag von Marion Weiner aus New York. Auf blauem Papier stand dieser Satz von erschreckender Banalität: «Alle wir ‹survivors› sind nicht wohlauf.» Am oberen Ende des Blattes klebt ein Vergissmeinnichtkranz. Inge Letkowitz aus New York rief aus, als könnte sie es noch immer nicht fassen: «Ich habe überlebt!» Henry P. Beerman meldete sich aus Lexington. Er war der Freund von Harry Ernsthaft, Nummer 3 , zu Zeiten, «als sie noch beide jung und hübsch waren». Er stand kurz vor dem 85 . Geburtstag und stellte die bescheidene Bilanz seines Lebens auf: «Im Großen und Ganzen war es ein großes Leben. Ich kann mich nicht beschweren.» Walter J. Waller aus Boca Raton in Florida vertraute mir in seiner E-Mail auf Englisch an: «Ihre Anzeige in ‹Aktuell› war wie eine Stimme aus fernen Zeiten: Ich spielte als Kind mit Harry und unserem gemeinsamen Freund John Meyer in Ihrer Straße.» John Meyer war zwei Jahre zuvor in Palm Beach gestorben. «Und ich bin leider immer noch da», schloss Walter J. Waller.
Ich hörte Hannah Kroner-Segal aus New York durch die Zeilen ihrer E-Mail hindurch lachen: «I am the needle in your haystack!» (Ich bin die Nadel in Ihrem Heuhaufen.) Sie war eines Abends zufällig auf meine Anzeige gestoßen, als sie zerstreut einen Stapel alter Zeitungen sortierte. Um ein Haar hätte sie sie übersehen. Klaus-Peter Wagner aus Rockville entschuldigte sich für seine gequälte Schrift: «Ich leide an Parkinson und sollte eigentlich überhaupt keine Briefe schreiben. Ich bin inzwischen 87 ½ Jahre alt und hätte niemals gedacht, dass ich überhaupt noch schreiben kann, besonders auf Deutsch. Mit besten Grüßen, auch von meiner Frau Yvonne. P.S.: Ich hoffe von Ihnen zu hören.» Einige Monate später schickte er mir einen zweiten Brief, in dem er mir das Leben seines Onkels Louis und seiner Tante Anny erzählte, die vor dem Krieg in meiner Straße gewohnt hatten, «Ich bin beinahe sicher, in den Zwanziger Nummern». Acht handgeschriebene Seiten. Klaus-Peter Wagner hatte nach jedem Abschnitt eine mehrtägige Pause eingelegt und mehrmals den Kugelschreiber gewechselt. Er erzählte mir das Schicksal von Louis und Anny Wagner: «Sie besaßen ein schönes Fabrikationsgeschäft, für feine Toilettenartikel (eine Spezialität waren die Puderdosen, eine Erfindung meiner Tante). Im November 1938 mussten sie gezwungenermaßen das Geschäft schließen. Es gelang ihnen die Flucht nach London per Flugzeug im Februar 1939 . Ihr Abflug in Tempelhof war ein großes Ereignis. Dies rettete mir später das Leben, denn mein Onkel fand einen Garanten für mich, seinen früheren Londoner Vertreter, wodurch es meinen Eltern möglich war, mich am 22 . August
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