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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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Schlafzimmers ihres Sohnes, der an der Front ist, auf und ab geht, verdächtigt Frau Rönnfeldt-Mutter ihre Schwiegertochter, «einen heimlichen Liebhaber» zu haben. Harry lebt im Keller, der nur durch ein kleines Fensterchen erleuchtet ist. Ein Schrank verdeckt die Tür. Harry geht nur nachts in den Garten hinaus. Er gibt den Mädchen Klavierunterricht, macht mit ihnen Hausaufgaben und hält während des ganzen Jahres 1944 in einem Taschenkalender und einem eigenartigen Nebeneinander die Großangriffe auf Deutschland und die Opernarien im Radio fest («Mosquito-Angriff, Rosenkavalier», schreibt er am 11 . Juni), die er auf einem Hocker in der Besenkammer anhört, während Grete kocht. Er lässt die Tür halboffen, um atmen zu können. «Seit wann magst du Opernmusik, Grete?», fragt Tante Trude, die eines Sonntagmorgens unerwartet in die Küche hereinschneit. «Mach mal den Quatsch aus!» Eines Abends treffen sich Harry und seine Mutter in der Oper. «Zu unserem fürchterlichen Schrecken», erinnert sich Lilli, «entdeckten wir hinter uns zwei ehemalige Mitschüler aus Harrys Klasse. Diese Feststellung bewog uns, die Oper in der Pause zu verlassen.»
    Als am 5 . Mai 1945 die Russen im Jüdischen Krankenhaus eintreffen, entdecken sie im Luftschutzkeller um die hundert verstörte Menschen. Die Russen können nicht glauben, dass noch Juden am Leben sind.
«Hitler kaputt!»
rufen sie.
«Niet, niet Juden!»
Plötzlich steht am Bett von Heinrich Ernsthaft ein Russe. Er durchwühlt den Schrank der Ernsthafts auf der Suche nach Wertvollem. «Wir waren uns bewusst, dass die Russen unsere Befreier waren, aber erst einmal tobten sie ihre Siegesfreude in nahezu vandalischen Akten aus: Sie benutzten die Schreibpulte als Toiletten, warfen in der Apotheke des Krankenhauses sämtliche Medikamente auf die Erde, und es soll auch Vergewaltigungen gegeben haben. Andererseits stellten sie auf unserem Hof Gulaschkanonen auf. Kinder erhielten Süßigkeiten. Wir waren glücklich, das Dritte Reich überlebt zu haben, und fühlten uns von einem furchtbaren Joch befreit. Was jetzt an Lasten auf uns zukam, teilten wir mit der übrigen Bevölkerung.»

Eine Nadel im Heuhaufen
    106  Juden sind aus meiner Straße deportiert worden. Das ergibt die Zählung des Berliner Gedenkbuchs. 106 in einer nicht allzu langen Straße. Möglicherweise waren es noch mehr. Manche wohnten nur vorübergehend hier. Um das Einsammeln am Tag der Deportation zu erleichtern, wurden Familien aus anderen Vierteln zwangsweise bei jüdischen Mietern der Straße eingewiesen. Doch die meisten von ihnen hatten jahrelang hier gelebt. Mehrere Familien in jedem Haus. Mehrere Dutzend Einträge im Telefonbuch, solange das erlaubt war.
     
    Wenn ich auf dem Nachhauseweg von der U-Bahn-Station aus die ganze Straße ablaufe und den Blick über die Fassaden schweifen lasse, versuche ich der unermesslichen Grausamkeit dieser Zahlen konkrete Konturen zu geben. Ich zeichne Gesichter auf die aufgelisteten Namen, stelle Miniaturszenarien zusammen: Ernsten Gesichts und energischen Schrittes verlassen die Kaufmänner Albert und Salomon Schidlowitz am Morgen die Nummer  2 . Der Kaufmann Cäsar Cohn mit seinem imperialen Vornamen bespäht von seinem Balkon in der Nummer  11 herab die Straße. Ich schreibe ihnen Charakterzüge zu: War die Witwe Emma Stillschweig (Nummer  2 ) ein unverbesserliches Plappermaul? Und Sidonie Pfeffermann (Nummer  17 ) so keck, wie es ihr Name nahelegt? Isidor Apfel (Nummer  6 ) lebte unweit von seiner Seelenverwandten Doris Saft (Nummer  10 ). Isidor Lazarus und Felix Bing waren Flurnachbarn in der Nummer  19 . Man muss sich ihre Begegnung im Treppenhaus vorstellen: «Guten Morgen, Herr Lazarus!» – «Guten Morgen, Herr Bing!» Der Kaufmann Arthur Deutsch (Nummer  7 ) teilte mit der Konzertsängerin Fanny Opfer (Nummer  17 ) einen prophetischen Namen. Aber jedes Mal, wenn ich versuchte, ihre Leben zu erfinden, stolperte ich über dieselbe Frage: Was ist aus ihnen geworden?
    War es möglich, dass die Juden meiner Straße, die in den dreißiger Jahren hellsichtig und reich genug waren, um rechtzeitig zu fliehen, noch am Leben waren? Die Überlebenden einer so gewöhnlichen Straße zu finden … Das war die Suche nach der Nadel im weltumfassenden Heuhaufen. Aber aus lauter Pflichtbewusstsein, um mir nicht meine mangelnde Chuzpe vorwerfen zu müssen, versuchte ich mein Glück. Ich gab eine Suchanzeige in der Zeitschrift «Aktuell» auf, die der Berliner

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