Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
«einem Juden», der – wie der Amtsleiter für Kommunalpolitik am 30 . Oktober 1935 festhält – «die Reparatur des Turmes an der Ecke wahrscheinlich aus Ersparnisgründen unterlassen hat. Das Eckhaus hat ein Aussehen, das dem Stadtbilde keine Ehre antut! Der Putz ist teilweise herabgefallen, sodass die nackten Mauern einen hässlichen Eindruck machen. Es steht zu erwarten, dass die Passanten durch Abfallen von größeren Putzstücken gefährdet werden.
Auch möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass die Reparatur an den Dächern des Eckhauses äußerst primitiv ausgeführt wurde. Es dient sicherlich nicht der Propaganda für Deutschland während der Olympischen Spiele, wenn wir tatenlos zusehen, wie jüdische Eigentümer nur das Allernotwendigste an den Häusern reparieren lassen, lediglich, um den Anordnungen der Baupolizei nachzukommen, ohne auf das Gesamtstadtbild Rücksicht zu nehmen. Heil Hitler!»
In ihren Briefen verhöhnten sie die Absurdität der Rassengesetze des Dritten Reiches: Die Juden hatten nicht mehr das Recht, Haustiere zu halten oder sich in Gruppen fortzubewegen. Sie beschrieben mir die Blindheit der jüdischen Familien der Straße, die überzeugt waren, Hitler sei nur ein vorübergehender «Spuk» und niemand würde einem alten Mann etwas antun, der in Verdun das Eiserne Kreuz angesteckt bekommen hat. Sie sprachen alle von dieser merkwürdigen Entdeckung, die sie plötzlich machten: Die «Juden» sind nicht diese Karikaturen, die im «Stürmer» zu sehen waren, diese Figuren mit Hakennasen, dicken Lippen und dem hinterlistigen Blick. Die «Juden», die von den Nazis verfolgt wurden, waren sie, die angesehenen Bürger dieser Straße. Sie mit all ihren Diplomen, Titeln und all ihrem Wissen. Sie, die so einflussreich waren. Sie, die am industriellen, wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung des Reiches mitgewirkt hatten.
Alle sprachen von der Schlinge, die sich immer enger zuzog, von der Flucht, oft in letzter Minute. Von der Entwurzelung in der neuen Welt aus lauter Wolkenkratzern oder Wüste. Ohne Geld, ohne Beschäftigung, ohne sozialen Status. Ihre Väter waren einfache Arbeiter geworden, Hausmeister oder Liftboys in den Hochhäusern von New York, Taxi- oder Busfahrer, Obst- und Gemüsehändler in Jerusalem. Abends saßen diese so gelehrten Bürgerlichen wie Gymnasiasten über Vokabellisten gebeugt. Diese Professoren-Doktoren verloren ihren Akzent nie und bauten ihre Sätze weiterhin nach deutschem Muster auf, setzten das Verb auch im Englischen ans Ende und das Adjektiv im Hebräischen vor das Substantiv. Blieben bis ans Ende ihrer Tage unfähig, sich vom Gerüst ihrer Muttersprache zu trennen. Sie küssten in der neuen Welt den Damen weiterhin die Hand und lüfteten den Hut, wenn sie einen Bekannten trafen. Sie legten nie die Jacke ab, verließen das Haus nie ohne Krawatte und vergaßen nie den Blumenstrauß oder die Köstlichkeit für die Dame des Hauses, wenn sie eingeladen waren. Alte Schule eben.
Sie kamen aus dem Wundern nicht heraus angesichts der Metamorphose ihrer Mütter. Diese launenhaften, großbürgerlichen Frauen sind zwischen der Feinwäscheabteilung und dem Tresen der Confiseure im KaDeWe groß geworden. Sie, die die Zeit damit vertrieben, Bridge zu spielen und die Dienstmädchen zu ermahnen, fanden sich am Fließband in den Fabriken von Queens wieder, trugen jahrelang dasselbe Kleid, melkten in den Kibbuzim die Kühe und lasen die Äpfel auf.
Sie erzählten mir Geschichten von Flucht, von Terror, Tod und Verlust. Sehnsucht und Wehmut, diese so schönen deutschen Wörter, nahmen in meinen Augen Gestalt an.
Doch sie sprachen auch schwelgerisch von ihrer glücklichen Kindheit in den großen, stattlichen Berliner Wohnungen in meiner Straße. Sie vergaßen für einen Augenblick, was danach kam, kehrten zu den unbeschwerten Anfängen zurück. Sie erzählten. Endlich hatten sie ein offenes Ohr gefunden für den Bericht ihres Lebens, von dem oft genug selbst ihre eigenen Kinder nichts hören wollten. Lis Eres, 92 , die Tochter des Apothekers in der Potsdamer Straße, bat mich, ihr ihre Zeugnisse und Fotoalben abzunehmen. Ihre drei Söhne, im Kibbuz groß geworden, drängten sie,
all den Kram
zu entsorgen. Sie würden nach ihrem Tod sowieso alles wegschmeißen.
Sie waren die Kinder des Bildungsbürgertums, ein Wort, das ich bei meiner Ankunft in Deutschland nur mit Mühe aussprechen konnte, so schwer und gravitätisch ist es. Der Weg schien vorgezeichnet. In dieser
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