Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
ihr Vater Hermann Lange, Sohn eines Kantors, frühmorgens mit dem Hut auf dem Kopf zur Schule. Er durchmaß die Straße mit erhobenem Kopf und festem Schritt. «Geh aufrecht und sei stolz, dass du Jude bist», rief er seinen jüdischen Nachbarn zu. Und wenn er im Salon in den Schofar blies, sorgte sich seine Frau: «Bitte, Hermann, hör sofort auf! Die Polizei wird kommen.»
Danach reihte Erica Gorin übergangslos die wesentlichen Ereignisse ihres anderen, ihres amerikanischen Lebens auf. Sie war zweimal verheiratet gewesen, das erste Mal 25 , das zweite Mal 27 Jahre lang. Eine ihrer drei Töchter, Amy, ist an Krebs gestorben. «Wenn ein Kind stirbt, stirbt ein Teil von dir mit!» Sie vertraute mir den größten Schmerz ihres Lebens an. Ihre Bescheidenheit rührte mich: «Besides, I tried, I think to be a good mother and wife.» (Abgesehen davon gab ich mir Mühe, eine gute Mutter und Ehefrau zu sein.) Die Tastatur des Computers hatte sich selbständig gemacht und auf fette Schrift umgestellt. «I don’t know why the type is so heavy now, the computer and I do not always understand each other.» (Ich weiß nicht, warum die Schrift auf einmal so fett ist, der Computer und ich verstehen uns nicht immer sehr gut.) Sie sprach ein wenig vom Wetter,
quite unusual for the season
, ziemlich ungewöhnlich für die Jahreszeit. Es hatte vor ein paar Tagen geschneit, und mehrere Nachbarn hatten keinen Strom mehr. Sie war nicht betroffen.
Thank God!
Mit der Hand fügte sie noch hinzu: «P.S.: Ich könnte Deutsch schreiben, aber es wäre steif. Ich fühle mich im Englischen sicherer.»
Englisch tut nicht weh. Es weckt keine schrecklichen Erinnerungen, ruft keine Sehnsucht nach vergangenen Zeiten hervor. Am Tag, als Erica Gorin 1940 den Fuß auf amerikanischen Boden setzte, hörte sie auf, Deutsch zu sprechen. Sogar mit ihrer Mutter und ihrem ersten Ehemann, einem Frankfurter. «Seine Eltern wurden im Konzentrationslager getötet. Wir hatten beide einen solchen Hass auf Deutschland, dass wir mit unserem deutschen Akzent Englisch sprachen. Es war keine große Entscheidung. Es kam ganz natürlich. Nur wenn wir nicht wollten, dass die Kinder uns verstanden, wechselten wir ins Deutsche.» Erica Gorin schickte mir auch die Reime, die sie in der Nummer 21 geschrieben und unter ihrer Matratze versteckt hatte:
«Wie lange noch willst Gast Du sein
in einem fremden Lande?
Hier siehst Du nicht als Bürger drein
Man nennt Dich eine Schande –
O Israel, kehre zurück nach Jeruschalajim
Dort wo der Tempel stand
In Deinem Land.»
«I wanted to become eine Schriftstellerin.» Diesen Mädchentraum bekannte Erica Gorin plötzlich auf Deutsch. Sie vertraute mir auch an, dass sie jeden Abend vor dem Einschlafen mit lauter Stimme
Der Mond ist aufgegangen
aufgesagt hatte, um die Angst zu vertreiben:
Gott, lass uns dein Heil schauen
Auf nichts Vergänglichs trauen …
Plötzlich strahlte meine Straße in die ganze Welt aus. Sie bevölkerte sich wieder vor meinen Augen. Die Exilierten erzählten mir vom Aufkommen des Antisemitismus, von den «kleinen Pogromen», wie sie die Rempeleien und Spötteleien im Hof des Hohenzollern-Reformgymnasiums nannten. Auf dem Giebel der Schule das Bandrelief mit der Ermahnung: Litteris, Virtuti, Patriae (Für Tüchtigkeit, Gelehrsamkeit, Vaterland). Sie erinnerten sich an den Klassenlehrer SA -Sturmführer Krüger, «aber fair», und an Gertrud Stratmann, die «sehr strenge» Besitzerin der Kaiser-Barbarossa-Apotheke, Nummer 1 des Platzes. Gertrud Stratmann, seit Juni 1931 Mitglied der NSDAP mit der Nr. 541 154 , erläuterte dem Finanzamt 1936 , wie ich kürzlich in einem Brief entdeckte, die Gründe für ihre schrumpfenden Umsatzzahlen: «In den letzten Jahren machte sich in unserer Wohngegend ein großer Abzug der vorwiegend mosaischen Bevölkerung bemerkbar, wodurch ein Rückgang des Geschäftsumsatzes bedingt wurde.» Sie bat die Behörden um die Aufhebung des Verpachtungszwangs: «Es liegt nicht im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung, einseitig harte Maßnahmen unter einseitiger Belastung von Personen zu treffen, die auf Grund ihrer nationalsozialistischen Einstellung nicht nur für die Idee gelebt und gekämpft, sondern sich auch dafür geopfert und durch die Tat ihre nationalsozialistische Überzeugung bewiesen haben. Heil Hitler!»
Meine emigrierten Nachbarn hatten Wind bekommen von den Misshandlungen, die Julius Gottschalk angetan worden sind, Eigentümer der Nummer 11 ,
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