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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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Bialik wurde von Miriam Blumenreichs Eltern und anderen deutschjüdischen Immigranten auf einem Terrain gegründet, das ihnen der Jewish National Fund zur Verfügung stellte. Ärzte, Juristen und Ingenieure leben hier vom übrigen Land abgeschottet. Das Elend, die Entwurzelung, die Hitze und obendrein das Hebräisch. «Schlimmer als Chinesisch!» Herbert Fiegel ist der einzige Erwachsene der Familie, der es lernt. Klara Fiegel ist 70 , als sie in einer Schule für Einwanderer den ersten Kurs besucht. Oma Else hat es gar nicht erst versucht. Sie hat weiterhin nur Deutsch gesprochen. Die alte Dame hat sich in Kiryat Bialik aus einem Freundeskreis von lauter Berlinern wie sie selbst ein Miniaturberlin aufgebaut.
    Man nennt sie die Jeckes, diese stets in ihre Jacken gezwängten deutschen Juden. Herbert Fiegel hat Deutschland verlassen, weil er nicht wollte, dass seine Töchter als «Drecksjuden» behandelt wurden. In Palästina waren sie plötzlich Jeckes, erzählt Miriam Blumenreich. «So ein Hass gegen die Deutschen hier. Unseren Eltern hat man gesagt: ‹Geht zurück zu Hitler!› Die Araber schrien uns hinterher: ‹Nazis! Nazis!› Sie hatten keine Ahnung davon, was ein deutscher Jude war. Wir haben uns geschämt als Deutsche. Die Jeckes, die sind ganz anders. Die Jeckes waren gebildet. Das Philharmonische Orchester ist gegründet worden von den Jeckes. Es gab keine Kultur vorher hier. Nehmen Sie mal meinen Mann, Wolfgang Blumenreich, ein echter Jecke aus Berlin. Er wäre nie vor mir in einen Autobus gestiegen. Und er wäre nie ausgestiegen, ohne mir die Hand zu reichen. Wo hat er das gesehen? In Auschwitz? Er hat das in sich gehabt. Und dann macht man Witze über uns. Wir kapieren schwer. Wir sind steif, korrekt, pedantisch, humorlos. Die Mentalität der Polen und der Russen war ganz anders. Die Deutschen gingen gerade wie ein Lineal. Die Ostjuden waren Drehköpfe.» Regelmäßig zählt Miriam Blumenreich die letzten Jeckes in Kiryat Bialik. Etwa zwanzig vielleicht. Die Neuen kommen aus der ehemaligen U dSSR, aus Argentinien. «Bialik», sagt sie, «ist nicht mehr, was es war.»
    Bei Dr. Dr. Fiegel kommen keine Oliven auf den Tisch. Oliven sind zu orientalisch für diesen Berliner, der an Hitzetagen weiterhin an seinem Grünkohlsalat mit Schnitzel festhält. Das Fremde ist ihm unbehaglich. Eine ständige Bedrohung. Auf den Märkten wird ihm schwindelig. Diese Gewürze, diese Zucchini, Auberginen, Feigen, Pimente, Chilischoten, Kräuter, die vielen Sorten von Pfeffer, die noch zuckenden Fische aus dem Mittelmeer. All diese Farben. All diese durchdringenden Gerüche. So viel Üppigkeit. Welch ein Kontrast zu dem monotonen Einerlei aus Kohl, Kartoffeln, Karotten, Petersilie, Zwiebel und Dill vom Gemüseladen der Frau Mertens in der Nummer  5 seiner Berliner Straße. Noch heute kann Miriam Blumenreich nicht anders als deutsch essen. Olivenöl verträgt sie nicht. Zum Abendbrot isst sie Graubrot mit Kümmel und Weißkäse. Wie in Berlin.
    Oma Else war nicht bereit, den Namen zu wechseln. Ein Witz, Else gegen Deborah oder Schlomi zu tauschen! Nein, nein! Kommt nicht in Frage! Klara ist zu Esther geworden. Marianne zu Miriam. Und sie fühlt sich als beides. Als Marianne und als Miriam. Sie hat sich mit ihrer doppelten Identität einigermaßen arrangiert. Ihre Muttersprache ist Deutsch. Ihr Heimatland Israel. «Doch ich lebe sehr im Zwiespalt. Sie hören, ich spreche ein sehr gutes Deutsch. Das sitzt im Herzen. Aber ich habe nicht Deutsch schreiben gelernt. Ich habe mir selbst das Deutsche zu schreiben beigebracht.» Miriam Blumenreich zieht das Verb manchmal nach vorne wie im Hebräischen. Das macht die Sätze im Deutschen wackelig, als würden sie aus dem Gleichgewicht geraten und gleich einstürzen. «Ich bin Jüdin mit Leib und Seele. Hier ist mein Land. Meine Kinder sind hier geboren. Meine Enkel auch. Wir waren Deutsche und haben verloren unseren Staat. Nach dem Krieg hätte ich nicht in Deutschland sein können. Ich will, dass Israel am Leben bleibt. Die Palästinenser werden uns nicht schmeißen können ins Meer. Irgendwo müssen auch die Juden leben und ihren Staat haben.»
     
    Miriam Blumenreich hat ihre Tochter Nava gebeten, mit ihren Söhnen auf einen Sprung vorbeizukommen. Nava hat keinen deutschen Vornamen. Ihre Kinder auch nicht. Sie hat drei Jungen. Drei Stammhalter. Echte Israeli. Sie sprechen nur Hebräisch. Und Englisch. Wer hätte es für möglich gehalten, dass am Stammbaum einer jüdischen Familie

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