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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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Petit. Er bewohnt ein winziges Zimmer mit fließendem lauwarmem Wasser und einem herrlichen Bidet, das er für einen Spucknapf hält. Er lernt mit dem Docteur Zacharias, dem nach Frankreich emigrierten Berliner Familienarzt, Schnecken zu essen, entdeckt in der Patisserie
A la marquise de Sévigné
auf der Place de la Madeleine den großen Luxus. Das Deutschland der fünfziger Jahre lebt noch immer in großer Kargheit, «aber in Paris hat man gefressen». In einem Brief beschreibt er Ilse seine ersten Eindrücke: «Es ist schwer, das Gefühl gedämpfter Begeisterung zu schildern, das wie ein Grundton alle Eindrücke begleitet: Ich sage mit Absicht gedämpft; denn so wie Licht und Menschen und Häuser Europas sind, so stellt sich Denken und Empfinden langsam wieder auf eine andere Tonwertskala um: ein von kultivierter Vergangenheit gesättigtes Grau, aber eben doch kein tristes Grau, sondern ein überaus nuanciertes, reifes Grau, leise lockend, von alten Mauern mahnend, in winklig-mittelalterlichen Gässchen, und wieder voll großartiger Fülle bei monumentalen Durchblicken, die geradezu mit dramatischer Wucht begabt sind.»
    Von diesem Pariser Jahr geblieben sind das Wörterbuch
Le Petit Larousse
auf dem Nachttisch, Malherbe, «Wo wären wir denn heute ohne Malherbe!», Verlaine, den er aus voller Kehle deklamiert, und das Vergnügen, die Wörter abzuwägen, neue zu erfinden, andere Verbindungen auszuprobieren. Auf einmal richtet er sich beglückt in seinem Bett auf: «Das ist wunderbar, finden Sie nicht? Hören Sie das? Hören Sie die Melodie der Wörter …» Und vor allem die Freude, wenn er von einer Sprache zur anderen springt. Vom Deutschen ins Französische, dann ins Englische, ins Hebräische.
    John sagt, dass er «von jeder Sprache den Nektar einsammelt». «Deutsch mag ich mit vielen geistigen Einschränkungen. Es gibt allerdings Sachen, die kann ich nur auf Deutsch sagen. Diese Sprache rührt mich, ich kann es nicht leugnen. Deutsch ist ein Teil von mir. Das ist die große Tragödie zwischen mir und meiner Muttersprache.» Goethe, «ihr Idol!», mag John nicht: «Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal versucht haben,
Wilhelm Meister
zu lesen. Das ist furchtbar! Aufgesetzt! Unnatürlich! Hätte ich die Wahl, entweder Goethes Gedichte oder die Galgenlieder von Morgenstern in die Hölle mitzunehmen, würde ich keine Sekunde zögern. Ich brenne darauf, Ihnen ein Gedicht von Heine zu zitieren. Kein anderer Dichter hätte zu schreiben gewagt
‹Süßes, dickes Kind …›
Geht es Ihnen auch so? Sehen Sie diesen gewissen Charme auch? Bevor ich dahinschwinde, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, Ihnen einen kleinen Leckerbissen aufzusagen, das erste Kapitel der
‹Berliner Bälle›
von Rideamus, der beschreibt, wie glücklich es sich als Berliner unter dem Kaiser leben ließ:
    Anne-Marie, die Tochter vom Haus
    Sieht heute wieder entzückend aus.
    Sie ist gewachsen wie eine Pinie
    Und hat eine klassische Nackenlinie.
    Aber sie hat einen schlechten Ruf
    Weiß der Himmel, was ihr den schuf.
    Ich war ein Kind, das von den Wörtern lebte. Mein Vater rezitierte mir alles, was in der Luft lag. Es war eine etwas alberne, etwas unglückliche und vor allem sorglose Zeit. Die Vergnügungsmöglichkeiten waren eingeschränkt. Die Wörter nahmen einen größeren Platz ein als heute. Im E-Mail-Zeitalter, sprießen da die Reime noch? Soll ich Ihnen noch ein Gericht à la John Ron vorsetzen?» Und schon legt er los:
    «Belle warste
    Triste biste
    Siehste Du wie du biste
    Belletriste.»
    «Kein sehr bedeutendes Werk, ich gebe es gerne zu. Aber es gefällt mir, etwas zu lesen, das nicht von den großen Problemen wie Leben und Sterben spricht.»
     
    Als sein Pariser Jahr 1951 zu Ende ist, beschließt John, nicht nach Israel zurückzukehren. Er hat eine Tante in London, in Notting Hill. Um nicht wie Balzacs heruntergekommener Cousin Pons an der Tafel seiner Verwandten aufzukreuzen, lässt er sich bei «Madelon», einem Herrenkonfektionsgeschäft im 15 . Arrondissement, einen olivgrünen Anzug maßschneidern. Er lässt sich in London nieder. John könnte eine ganze Sammlung von Pässen anlegen. Deutscher bei der Geburt. Einwohner des britischen Mandatsgebiets Palästina 1938 . Israeli, dann Brite. «Heute bin ich technisch Engländer und Inhaber einer amerikanischen Greencard. Aber Deutscher? Wie könnte ich das sein? Die deutsche Staatsbürgerschaft ist mir aberkannt worden. Es ist mir nie eingefallen, sie wiederzuerlangen.

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