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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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desselben, so wie man mit überspitzten Slogans eine besonders leistungsfähige Automarke preist. Ein strahlender Sonntag. 30  Grad Celsius. Die New Yorker sind am Strand, in den Parks, im Schatten. Der kleine Bahnhof von Mineola ist menschenleer.
    Hannah und Evelyn prüfen die aussteigenden Passagiere. Sie erkennen mich sofort. «You see, the girls from Berlin find their way to the end of the world!», raunt Evelyn ihrer Mutter zu. Mutter und Tochter haben seit jeher Englisch miteinander gesprochen. Beide winken mir lebhaft zu. Hannah steht mit geradem Rücken und der Kopfhaltung einer Tänzerin fest auf ihren flachen Sandalen. Mit ihren rot geschminkten Lippen, ihren perfekt gekämmten kastanienbraunen Haaren sieht man ihr das Alter überhaupt nicht an. «Man muss dankbar sein, wenn die Natur mitspielt. Das Tanzen hat mich körperlich fit erhalten», sagt sie, als ich ihr ein Kompliment mache. «Dass ich mit 92 den Fuß noch hochschwingen kann!» Und wir umarmen uns.
    Wir steigen in Evelyns Auto. Hannah fährt noch selbst, um ins Theater zu gehen oder einzukaufen. Sie meint, ohne Auto wäre sie aufgeschmissen. Das Bristal ist ein kleines, von allem abgeschnittenes Inselchen, in ein Nest aus dreispurigen Straßen gebettet. «The Bristal lies in the heart of Long Island’s Gold Coast. Reach major thoroughfares like New Hyde Park Road, Shelter Rock Road, the Northern State Parkway and the Long Island Express Way in seconds», verkündet der Prospekt der Einrichtung, der seinen potenziellen alten Mietern weismachen will, dass sie hier ins sprudelnde Leben eintauchen werden.
    Hannahs Einzimmerwohnung befindet sich am Ende eines langen Flurs, dessen dicker Teppich das Klappern der Gehstöcke dämpft. Je weiter man sich vom Fahrstuhl entfernt, desto billiger wird die Miete der Apartments. Hannah schlängelt sich mit leichtem, fast tanzendem Schritt zwischen den Rollstühlen und Rollatoren hindurch, grüßt nach rechts und nach links. «Als ich hier ankam, waren noch fast alle auf den Beinen», sagt sie auf Deutsch, damit ihre Mitbewohner sie nicht verstehen. Sie möchte sie nicht kränken. Sie findet sie ein bisschen deprimierend, all diese Alten, die sich im Sommer unter ihrem Fenster auf den Liegestühlen am Rande des Pools aufreihen. Im lauen Wasser herumzuplanschen und sich stundenlang in der Sonne braten zu lassen, das ist nichts für sie. Hannah hat bis zum letzten Sommer Tanz unterrichtet. Noch heute gibt sie im Bristal einmal wöchentlich Gymnastikkurse: «Wir bewegen, was sich noch bewegen lässt, die Schultern, die Hände, die Finger, den Oberkörper. Zum Tanzen ist es nie zu spät.» Und dann bückt sich Hannah, ohne die Beine zu beugen, mit gestrecktem Rücken und ohne jede Anstrengung, um den Schlüsselbund aufzulesen, der ihr aus der Hand gefallen ist.
    Als wir uns in ihrer Einzimmerwohnung an dem kleinen Tisch mit unseren überdimensionalen Putensandwichs abmühen, schrumpft die Zeit, die ganze verstrichene Zeit auf einmal zusammen. «Mit zunehmendem Alter steigt die Vergangenheit wieder hoch, in unglaublicher Klarheit.» Und die Vergangenheit, das ist Susanne. Susanne Wachsner, Hannahs Freundin aus Kindertagen. Eigentlich sind es ihre Mütter, die über alles entschieden haben. Frau Kroner und Frau Wachsner sprachen sich am Tag der Einschulung im Pausenhof der Volksschule an. Die beiden Frauen hatten sich einen langen Moment gemustert, das Für und das Wider abgewogen: Kind von ansprechendem Äußeren, gut erzogen, Strümpfe weiß und Schuhe blankpoliert, gleiches soziales Milieu und darüber hinaus jüdisch … Alle diese Fragen, die sich die Mütter bürgerlicher Familien meiner Straße stellen, darauf bedacht, den Umgang ihrer Töchter gut durchzusieben. Dann fragte Hannahs Mutter Susannes Mutter noch der Form halber: «Sollen unsere Töchter Freundinnen sein?»
     
    Susanne wohnte in der Nummer  9 meiner Straße, genau an der Ecke zum Platz, da wo heute der «Park» neben dem Supermarkt beginnt. Das Gebäude ist von den Bomben zerstört und nicht wieder aufgebaut worden. Eine dunkle, freudlose Wohnung, wo Hannah oft zum Mittagessen eingeladen war, sich jedoch nie wohl gefühlt hat. Einmal, als Susannes Vater kurz aus dem Raum gegangen war, um ans Telefon zu gehen, hat sie ihren Spinat in eine Pflanzenschale gekippt. Fritz Wachsner, Verfechter einer preußischen Erziehung, hätte es nie geduldet, dass ein Kind seinen Teller nicht leer isst. Nach dem Tod von Susannes Mutter engagierte dieser kalte,

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