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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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Hans-Hugo hatte dort früher stundenlang mit seiner Cousine Lola gespielt. Irma Rothkugel schreibt ihren Kindern über das Rote Kreuz. Sie unterschreibt: «Voll Sehnsuchtsliebe. Mutter.» Auf 25  Wörter beschränkte Briefe. Irma Rothkugel mogelt, indem sie Wurstwörter baut. «Das Deutsche ist eine sehr elastische Sprache. Das Französische lässt sich nicht derart vergewaltigen!», freut sich John. Anfang 1940 erhält John ein Foto von seiner Mutter bei einem Schiffsausflug auf der Havel. Er ist froh zu sehen, dass ihr dieses kleine sommerliche Vergnügen nicht untersagt ist. Im Juli 1941 werden Irma Rothkugel, ihr Bruder und ihre Schwägerin mit anderen Juden in einer Wohnung in der Knesebeckstraße zusammengepfercht.
    Der einzige Trost für Irma Rothkugel: Ihre drei Kinder sind gesund und heil in Palästina. Nach ihrer Abreise fängt sie an, kleine Gedichte «ohne jeden Anspruch» zu schreiben, um die Zeit, den Kummer und die Angst totzuschlagen. John bewahrt sie in einem Umschlag in seiner Nachttischschublade in Berkeley auf.
    «So manchmal das Glück ich beinahe nicht fass’,
    Die Kinder entzogen dem tödlichen Hass!
    Gerettet die Kinder, und sie alle drei
    Vor wahnsinnigem Toben und Blutraserei!
     
    Sie müssen nicht hungern, sie frieren auch nicht,
    Die Qual des Gehetztseins zeigt nicht ihr Gesicht.
    Sie fristen nicht furchtsam ihr Leben dahin,
    Ihr Tun und ihr Wirken, das hat einen Sinn.
     
    Sie dürfen am Tage froh schaffen mit Sang
    Und ruhn in den Nächten nicht angstvoll und bang.
    Bewegen sich frei in der schönen Natur
    Und büßen für eigene Taten doch nur.
     
    Ach, wahrlich, es dünkt mich der Preis nicht zu hoch,
    Muss zahlen mit eigenem Leben ich’s noch.
    Die Kinder gerettet! Was liegt noch an mir?
    Du Herrgott im Himmel, wie danke ich dir!»
    John nimmt es sich übel, seine Mutter unterschätzt zu haben: «Das übertrifft das Niveau der Sonntagsdichter, finden Sie nicht? Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich in ihr nur eine simple Hausfrau und Mutter gesehen habe, die Klavier spielt und sich um kleine philanthropische Werke kümmert. Sie, die so schlecht vorbereitet war auf diesen Horror. In einer Notlage entdeckte sie die Kraftquellen in ihrer Seele. Sie hat sich nicht umgebracht wie viele andere Juden. Die Gewissensbisse plagen mich ein wenig, dass ich damals nicht mehr an meine Eltern gedacht habe. Das ist der Egoismus der Jugend und die Erleichterung, den Nazis mit knapper Not entwischt zu sein. Es passierte so viel in meinem Leben. Solange die Rotkreuzbriefe meiner Mutter eintrafen, machte ich mir keine übermäßigen Sorgen.»
    1942 ist das schlimmste Jahr in Johns Leben, der inzwischen in den meteorologischen Dienst der Royal Air Force eingetreten ist. Ich spüre, dass John sich einem seiner «inneren Räume» annähert. Ende des Sommers 1942 ertrinkt Paul. Ein Unfall. John spricht im Telegrammstil, als er von dieser neuen Tragödie erzählt. Er erzählt weder von den Umständen des Unfalls noch von der Beerdigung noch von seinem Kummer. John und Ilse beschließen, ihre Mutter nicht zu informieren. «Nun Folgendes», schreibt Hans-Hugo an Ilse. «Wir werden also eine plausible Erklärung finden müssen, die Mutti trotzdem nicht zu sehr beunruhigt. Ich dachte etwa an: ‹Paul außer Landes›; oder (wenn von der Zensur erlaubt) ‹Im Heeresdienst, ohne Möglichkeit eines Rote-Kreuz-Briefes. Es geht ihm gut, er lässt Dich vielmals grüßen.› Falls Du etwas Besseres weißt, so schreibe mir bitte gleich. Je mehr Zeit verstreicht, desto leichter kann Mutti Verdacht schöpfen.»
    Irma Rothkugel wird Paul nur um acht Monate überleben. Sie wird am 14 . Dezember 1942 deportiert. Ein paar Tage vor ihrer Abfahrt schreibt sie ihren Kindern drei Abschiedsworte: «Ich verreise heute.» Sie stirbt fünf oder sechs Tage nach ihrer Ankunft in Riga, am Tag vor Weihnachten. Am 4 . März 1943 verabschieden sich auch Onkel Rudolf und seine Frau mit einem Brief von ihrer Tochter Frieda-Lore Noemi, Johns geliebter Cousine, die ebenfalls in einem Kibbuz lebt. Sie werden nach Auschwitz deportiert: «Lolalein! Herzensdank für Mairotkreuzbrief! Wir folgen heute Irma. Bleibe ruhig, auch wenn lange Post ausbleibt. Du warst uns nur Freude. Gottbefohlen! – Voll Gottvertrauen auf Wiedersehen. Vati und Mutti.»
     
    «Um Ihnen zu beweisen, wie sehr ich gezögert habe, mich der Vergangenheit zu nähern …» John verrät mir, dass er mitten in der Nacht aufgestanden ist, um den Umschlag zu öffnen,

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