Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
den er vor vier Jahren von Yad Vashem erhalten hat und an den er bisher nicht zu rühren wagte. Er enthält die Deportationsdaten seiner Familienmitglieder. «Ich kannte das Jahr der Deportation meiner Mutter. Aber nicht das meines Vaters. Ich habe gestern erfahren, dass er nach Ankunft der Nazis in Prag im März 1939 noch fast drei Jahre überlebt hat. Er ist am 9 . Mai 1942 in Lodz gestorben. Acht Tage, nachdem mein Bruder ertrunken ist. Meine Mutter wurde Ende desselben Jahres 42 in Riga erschossen.»
John macht eine Pause. «Während ich Ihnen das alles erzähle, sind die Schmerzen wiedergekommen. Die Schmerzen sind loyal, hat Colette gesagt. Mein Körper reagiert heftig. Der Schock von Pauls Unfalltod hat mich viel mehr erregt als der Tod meiner Eltern. Das Ertrinken meines Bruders war nicht Teil des kollektiven Schicksals. Wie sollte ich ohne ihn leben? Ende 42 war ich ziemlich am Ende meiner Kräfte.»
John hat neben den Namen seiner Onkel und seiner Tanten auf der Liste von Yad Vashem kleine Kreuze angebracht. Er stellt Statistiken auf: «Meine Eltern hatten beide drei Geschwister. Die vier Rothkugel auf Seite meines Vaters, Luzy, Otto, Karl und Leon, sind alle von den Nazis ermordet worden. Ein Volltreffer. Auf Seite meiner Mutter hat es nur Onkel Erich, derjenige, der mir das Leben gerettet hat, geschafft, im letzten Augenblick nach Ecuador zu emigrieren. Tante Edith, die modernste von uns, die eine Psychoanalyse nach Adler machte und sich über ihren Miko, kurz für Minderwertigkeitskomplex, beklagte, ein damals sehr in Mode stehendes Seelenwirrwarr, ist im Februar 1933 an Leukämie gestorben, im Augenblick, als Hitler an die Macht kam. Meine Mutter und Onkel Rudolf sind deportiert worden. Damit sind 75 % meiner Familienmitglieder von den Nazis ermordet worden.»
Am 25 . August 1946 schreibt Hans-Hugo an Ilse: «Es braucht sicher Jahre, ehe wir ganz verstehen können (wenn überhaupt?), was für ein wahnsinniges Schicksal unsere Leute getroffen hat. In mir ist eine große Trauer aufgekommen; all das uneingestandene Schwere, Verlustreiche, womit meine Kindheit und Jugend überschattet waren, findet seinen Höhepunkt in Muttis Ende. War ich zum Hadern gegen die dauernden Widrigkeiten geneigt, so beuge ich mich heute vor der Tragik unserer Situation, persönlich, wie auch die alle Juden betreffend. Wir sind in jeder Beziehung der Rest, den der Zufall (oder das Schicksal?) verschonte, aber sind nicht auch unsere Vorräte schon zur Hälfte aufgebraucht, werden wir noch das Neue, Kommende aufbauend erleben? Die gute, alte, grüne Hoffnung, so sehr verachtet, aber doch die Schwester des Glaubens, möge sie uns weiter zur Seite stehen! Verzeih vorangegangenes Impromptu, aber ich musste mit jemandem sprechen!»
Was bleibt von der Familie Rothkugel? Ein paar Fotos in der Schreibtischschublade in Berkeley. Nicht einmal ein Album, in dem die Onkel und Großeltern, gut geschützt zwischen Kartondeckeln, vereint gewesen wären. Onkel Rudolf, seine Frau Grete und die Cousine Lola einander umfassend, auf dem Balkon in der Vionvillestraße wenige Tage vor der Auswanderung Lolas. Der Großkaufmann Benno Cohn mit seiner Gemahlin beim Promenieren in Bad Kissingen im Jahr 1921 , «zu einer Zeit, wo ein großer Teil seines Vermögens bereits futsch war». Omama Anna 1880 , vor ihrer Heirat, als viktorianische Schönheit. Leon als junger Mann in der Uniform als Frontsoldat, die rechte Hand verbunden, nach der Heimkehr von der Front. Er gleicht einer Figur von Proust. «Die Frauen mochten ihn ziemlich. Nicht bis zum Wahnsinn, aber ziemlich.» Irma sitzt auf dem Sesselarm ihres Mannes, der ihr um die Taille fasst. Paul in Hazorea, «der dritte von rechts, im dicken Pullover».
Da ist auch dieses Porträt von Jochanan Ron aus dem Jahr 1950 , ein
eligible bachelor
(begehrter Junggeselle), Meteorologe auf dem Flughafen Lydda bei Tel Aviv. Dieser ernste junge Mann mit Brille und Pomade im Haar hat einen Traum: Paris kennenlernen, «bevor es durch einen dritten Weltkrieg zerstört wird». Er ergattert ein einjähriges Stipendium, um an der Sorbonne Meteorologie zu studieren. «Ich war ein kleiner Lebemann. Und um meinen Lebenshunger zu stillen, war Israel nicht der geeignete Rahmen. Ich wollte um das Goldene Kalb tanzen!» Die Flucht war vielleicht das einzige Mittel, diesem Gewitter zu entrinnen, das sich in ihm zusammenbraute, sagt er.
Jochanan Ron lebt im Style Hotel, Rue Claude Bernard, geführt von Monsieur und Madame
Weitere Kostenlose Bücher