Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
singend am Lagerfeuer. Ilse, braungebrannt, ein Tuch um den Kopf, ist voller Begeisterung für ihr neues Leben. Obwohl ihr die deutsche Kultur auf der Haut klebt. «Meine ganze seelische Klaviatur ist durch die deutsche Kultur geprägt», gesteht sie ihrem Bruder. Hans-Hugo versteht sehr schnell, dass er nicht für dieses Leben gemacht ist. Für ihn ist «das zionistische Ideal keine Alternative zur deutschen Identität». Er fühlt sich überhaupt nicht an seinem Platz unter diesen kräftigen Pionieren, die ganz von ihrer Mission erfüllt sind: das neue Land aufbauen. Er ist zu kurzsichtig und nicht kräftig genug für die Arbeit mit der Erde. Und sich hinter dem Steuer eines Traktors oder beim Melken einer Kuh wiederzufinden, er mit seinen zwei weißen, linken Händen … Außerdem hätte er den «militaristischen Stil» und die primitive Holiday-Resort-Atmosphäre, die damals im Kibbuz herrschten, schlecht ertragen.
Hans-Hugo zieht Jerusalem vor. Hier ist er nicht ganz so fremd. Er lebt in einem ausschließlich deutschen und österreichischen Milieu: Da waren die Lehrer im Konservatorium, der Notenhändler, Herr Popper, der Hamburger Chef der Buchhandlung, in der er arbeitet, sein Kollege Jakob, der Berliner Arzt, der ihm ein Zimmer untervermietet, der Pastor Heinz Kappes aus Stuttgart, der sich für den Frieden zwischen Juden und Arabern einsetzt – «der heiligste Mann, den ich je gekannt habe. Er gab Privatkurse über Bhagavad Gita und Meister Eckhart» –, der Schneider, der ihm die Vorhänge nach Maß anfertigt, der Inhaber der Konditorei Vienna, wo sich die deutschen Immigranten unter den Kronleuchtern zum Kaffee mit Sachertorte zusammenfanden … «Jerusalem war eine Mischung aus dem sehr alten ottomanischen Stil und dem Funkelnagelneuen. Vom Mittelalter bis zum Bauhaus … die ganze Palette. Die Straße, in der ich wohnte, war moderner als unsere Berliner Straße. Und sobald Sie das Jaffator überschritten hatten, betraten Sie den Basar mit seinen tuchbedeckten Gassen, wo nie die Sonne hereinkommt. Eine andere Welt mit exotischen Menschen, Kurden, Lastenträgern, beinlosen Bettlern.»
Einige Wochen später taucht Hans-Hugos Bruder Paul mit einem Handkoffer, seiner Freude am Leben und an hübschen Mädchen ohne Abitur, ohne Beruf und ohne einen Pfennig in der Tasche in Jerusalem auf. «Paul war extrovertierter als ich und
better looking
.» Paul wird, «mangels eines Besseren», Lokalreporter der Zeitung
Bourse égyptienne
und verliebt sich in die junge Pianistin Miriam. Die beiden Brüder teilen sich ein kleines Häuschen im arabischen Stil im Vorort von Jerusalem am Rand eines Wadi, eines Tals mit Blick auf die Judäischen Berge. Eine karge Schönheit. Ringsum kein anderes Wohnhaus. «Ich war sehr bequem eingerichtet. Ein Zimmer mit Klavier, ein gut gebauter Arbeitstisch, Fayencefliesen und vor dem Bett ein Samtteppich. Das Badezimmer war primitiv und ohne fließendes Wasser. Im Winter floss der Regen in ein Reservoir. 1940 gaben wir ein kleines Fest zu meinem achtzehnten Geburtstag. Wir dekorierten das Gärtchen, luden meinen Chef ein. Wir waren etwa zehn Leute unter freiem Himmel.»
Wäre da nicht dieser Packen Briefe, den John mir anvertraut hat und den ich abends in Berkeley in meinem Hotelzimmer lese, würde ich vergessen, dass dieser junge unbekümmerte Abenteurer, den er mir beschreibt, seiner Familie, seinem Land, seiner Sprache entrissen worden ist. In einem Brief vom Februar 1941 gesteht Hans-Hugo seiner Schwester Ilse: «Ich habe keine Möglichkeit, mich mit einem Menschen über meine Angelegenheiten auszusprechen. Nun bin ich diesen Mangel aber schon so gewohnt, weiß, dass ich alles mit mir selbst ausmachen muss, und dadurch bin ich sehr verschlossen geworden; mehr, als es mich im Grunde genommen anspricht. Mit Paul kann ich nicht rechnen, so nett er oft ist und anständig, so ist er mir in keiner Weise beispielgebend, eher im Gegenteil: Er kann mir eben nicht richtig helfen, innerliche Schwierigkeiten zu überwinden. Weißt du, mir fehlt eben doch ein Vater oder Führer. Früher habe ich mir das sehr schön gedacht: Völlige Freiheit zu haben, sich sein Leben einrichten zu können, wie man es will; aber man darf dazu nicht so jung sein wie ich.»
Nach der Abreise ihrer drei Kinder zieht Irma Rothkugel zu ihrem Bruder Rudolf Cohn und ihrer Schwägerin in die Vionvillestraße in Berlin-Steglitz. Ein für die Epoche sehr modernes Bauhaus-Gebäude am Rande des Stadtparks.
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