Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Ich habe meinen deutschen Pass sowieso verbummelt, dieses historische Dokument!»
Weil er den «gelben Nebel» von London nicht mehr erträgt und diese «verrückten Engländer, die ein Faible für Durchzug und unbeheizte Wohnungen haben», geht John Ron auf die Bermudas. Und weil er die «Cocktailpartys, den Wasserski, die Kakerlaken und die allzu umtriebigen New Yorker Scheidungswitwen» nicht mehr erträgt, zieht er in die Vereinigten Staaten weiter, das Land der Freiheit, der großen Weiten und der besten Klempner der Welt. Er ist 39 . Er unterrichtet auf der Highschool Englisch, Deutsch und Französisch. 1972 lebt er in Denver und unternimmt einen letzten Versuch, nach Israel zurückzukehren. Vier Monate hält er durch. «Zu diesem Zeitpunkt herrschte in Israel große Euphorie. Ich sah am Unabhängigkeitstag Militärparaden in den arabischen Vierteln, ohne jede Rücksicht auf Empfindlichkeiten. Was für eine Arroganz. Ich sah, dass die ultraorthodoxe Minderheit, die ‹Schwarzen›, immer mehr Macht hatten. Das Land war gewiss sehr florierend hinsichtlich der Wirtschaft, wurde getragen von der Siegeseuphorie nach einem so kurzen wie entscheidenden Krieg, aber dieser angeberische Nationalismus gefiel mir nicht.» John kehrt in die USA zurück.
Von draußen steigen Grillgerüche herauf. Eine Salsa latino, Lachen und Gesprächsfetzen sind zu hören. Das weiße Middle-Class-Amerika feiert. Es ist der 4 . Juli. Independence Day. Ich bin gekommen, um mich von John zu verabschieden. Er sucht nach einem Schlusswort für unser Gespräch. «Mit zunehmendem Alter verstehe ich meinen Vater besser. Geld und Karriere zählten wenig für ihn. Ich war wie er ein Glücksritter. Ich stelle in diesem letzten Moment meines Lebens fest, dass ich keinerlei jüdische Identität spüre. Es ist eher eine Solidarität des Schicksals. Das hat nichts mit der Religion zu tun. Das Einzige, was mir davon geblieben ist, sind die in Herrlingen gelernten hebräischen Gesänge. Aber zwischen einem Lied und der Weltanschauung … liegt ein großer Abgrund.»
Unten auf der Straße sitzen Johns Nachbarn, nackte Oberkörper, Bermudas und Baseballmützen, in ihren Klappsesseln und schlecken Zuckerwatte. Die amerikanischen Flaggen wehen an den Fassaden der Holzhäuser mit den Rosen in den Vorgärten. Die Wagen stehen geschützt in den Garagen. Über der Bucht von San Francisco in der Ferne liegt ein leichter Hitzeschleier. Oben das kleine Apartment. Ping bereitet Mister Rons Tee mit Milch zu. Sie werden heute Abend die Einzigen der Straße sein, die nicht zum Feuerwerk gehen.
Hannahs Kleid
Für Susanne Wachsner
G
od knows
, wie viele Kleider Hannah zur Wohltätigkeitsorganisation Good Will gebracht hat. Zu eng gewordene Röcke hat sie weggegeben, Blusen, deren jugendliche Farbtöne sich nicht mit der Gravität des fortgeschrittenen Alters vertrugen, wie sie eines Tages beschied, während sie sich vor dem Spiegel drehte. Aber um sich von diesem Ballkleid zu trennen, das sie so behutsam aus dem Kraftpapier schält, dafür hat sie nie den Mut gehabt. Auch nicht, als sie vor ein paar Jahren ihre Wohnung von Grund auf entrümpelte, Säcke voll altem Plunder wegwarf, ganze Kleiderkartons fortschaffte, weil sie genau wusste, dass in dem kleinen Apartment des Bristal, des Assisted Living Home von North Hills, das sie im Vorort von New York beziehen würde, kein Platz für die Sachen eines ganzen Lebens ist. Ein langes schwarzes Abendkleid aus Crêpe de Chine, Zeuge der Wespentaille, die sie mit 19 hatte, als sie es unter dem wachsamen Blick ihres Vaters und ihrer Mutter für die Dauer eines Walzers auf der
S. S. Rotterdam
, dem Passagierschiff, das die Familie Kroner nach New York brachte, zum ersten Mal trug. Es war im Jahr 1939 .
Ich bin am Tag zuvor aus Berlin gekommen. Wir sind zu dritt auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Mineola in Long Islands verabredet: Hannah Kroner-Segal, fast 92 Jahre alt, ihre Tochter Evelyn und ich. Der Zug durchquert
Suburbs
, wie man sie in amerikanischen Filmen sieht: Eine breite, ausgestorbene Straße, apfelgrünes Rasenviereck, der Wagen in der Allee geparkt, das Haus mit heller Holzveranda. Kilometer um Kilometer dieselbe regelmäßig wiederholte Komposition. Hin und wieder durchbricht ein Parkplatz oder ein Riesensupermarkt den Rhythmus dieser Vorstadtsiedlungen. Viele Tempel und Kirchen von skurrilen Religionen. Über die Fassaden gespannte Banderolen singen das Loblied irgendeines Gottes, nie wirklich
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