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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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dem Beruf des Vaters fragt, springt die Hälfte der Jungen von der Bank auf und brüllt: «Tot!» Auch Joachim. An der Wand gegenüber dem Sofa prangt, in Leder gerahmt, das Profilbild des flotten Testfliegers der Luftwaffe in Zivil. Dieser Vater, den der Junge nie gekannt hat, lässt ihn nicht aus den Augen. Vater und Sohn haben im Lauf der Jahre eine virtuelle Nähe aufgebaut. Sie sind unzertrennlich. «Er ist ganz der Vater!», rufen die Besucher und beobachten den kleinen Joachim von der Seite. «Mein Mann ist gefallen …», erklärt Liselotte Bickenbach dann, als wäre der Flieger beim Rennen querfeldein über eine Wurzel gestolpert und nicht wieder aufgestanden. Ein Tollpatsch.
    Vom Krieg wird nicht mehr gesprochen. Genauso wenig wie vom Nationalsozialismus. Von Politik im Allgemeinen. «Was mit Politik zu tun hat, ist sowieso eine große Schweinerei», bringt Liselotte Bickenbach ihrem Sohn bei. Und man geht zu etwas anderem über. Man war so sehr damit beschäftigt, sagt Joachim, das tägliche Leben in den Griff zu bekommen, dass keine Zeit blieb, «um etwas hochkommen zu lassen». Alle waren «froh, schweigen zu können». Liselotte Bickenbach hat keine Zeitung abonniert. Jahrelang geht sie nicht wählen. Der erste Wahlzettel, den sie in die Urne legt, ist 1969 für die FDP und die Koalition Brandt-Scheel. Sie befürwortet die Ostpolitik Willy Brandts: «Was wir verloren haben, ist weg!» Sie will nichts mehr von Swinemünde hören. Den Fuß dorthin setzen schon gar nicht!
    In der Schule hören die Geschichtsstunden beim Ersten Weltkrieg auf. Joachim muss auf Herrn Marx warten, «der Name war Programm!», seinen Gymnasiallehrer, um den Nationalsozialismus zu entdecken. «Ich war 17 . Ich habe nachgefragt. Aber es kam nicht viel. Meine Mutter sagte, sie hätte mit den Nazis nichts zu tun gehabt, weil sie beim Militär war, bei den Generälen der alten preußischen Armee. Sie gehört zu der Truppe, die extrem und optimal verdrängt hat. Dadurch hat sie überlebt. Andere sind daran kaputtgegangen. Meine Mutter war genauso ein Rädchen, das funktioniert hat. Für sie war das Kapitel abgeschlossen. Sie wollte nicht mit irgendwelchen Details konfrontiert werden. Sie hat es aber selber mitgekriegt: Nachts die Lastwagen auf der Straße, die die jüdischen Familien mitgenommen haben, auch aus Mutti Nehrenbergs Haus. Sie ist nicht blind durch Berlin gelaufen. Sie erzählte manchmal … Aber wie eine Tatsache, die nichts mit ihr zu tun hatte. Aber dass sie sich nicht damit beschäftigt hat … Das glaube ich ihr nicht! Bei ihr zu Hause in Hagen standen meterlang Bücher über das Dritte Reich. Ganz dicke Schinken. Sie hatte alles gelesen. Viel angekreuzt. Manchmal war sie sogar wütend: Das, was da steht … Das stimme nicht! Sie wüsste es doch besser! Sie sei schließlich dabei gewesen!»
    Abends sitzt Liselotte Bickenbach in ihrem Sessel und liest. Wenn sie schlafen geht, lässt sie die kleine Lampe im Wohnzimmer an und die Tür zu ihrem Schlafzimmer einen Spalt offen. Seit dem Krieg und dem Luftschutzkeller der Mutti Nehrenberg erträgt sie keine dunklen Räume mehr. Sie zieht nie die Vorhänge zu, damit das Straßenlicht hereinfällt. Die Nacht muss sichtbar sein.
    Liselotte arbeitet hart, von 8 bis 18  Uhr und den halben Samstag. Sie begleitet ihren Chef mit ihrem Stenoblock. Neben ihm auf dem hinteren Sitz im Auto, schreibt sie nach seinem Diktat, ungeachtet des Straßenzustands, trotz Schlaglöcher und Kurven. Wenn der Chef fertig ist, setzt der Fahrer sie am nächsten Bahnhof ab, damit sie nach Hagen zurückkehren kann. Kaum angekommen, eilt sie ins Büro, um die Notizen in die Schreibmaschine zu tippen. Am nächsten Morgen findet ihr Chef die Briefe – tipptopp – in der Unterschriftenmappe auf seinem Schreibtisch. Frau Bickenbach liebt ihren Chef innig. Und ihr Chef ist in gewisser Weise der einzige Mann in ihrem Leben. Nie verguckt sie sich. Nie verliebt sie sich. Nie ein Flirt, nie ein Mann für ein Abendessen oder eine Nacht. Im Übrigen vergisst Dorothea Bickenbach nie, ihre Tochter daran zu erinnern, indem sie mit dem Kinn auf das Porträt Wilhelm Wagners weist, dass ihr Ehemann fürs Vaterland gestorben ist. Eine Kriegerwitwe hat treu zu bleiben bis in den Tod!
    Beim Essen bringt Liselotte Bickenbach ihrem Sohn anständige Tischmanieren bei, «dass du in jeglicher Situation bloß nicht auffällst». Abends wird zu zweit in der Küche der ganze Kanon der bürgerlichen Familie eingeübt: Es ist

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