Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Frau, saß mit aufrechtem Rücken auf ihrem Rollstuhl. Den Blick starr geradeaus gerichtet. Sie hatte sich nur schlecht von einem Schlaganfall erholt. Es war kurz vor Weihnachten. Sie wartete auf den Besuch ihres Sohnes. Sie lächelte nicht, als ich kam. Sie beklagte sich, dass sie keine Vase für die Blumen habe, die ich ihr mitbrachte: «Was mach ich bloß damit?» Ich habe versucht, ihr ein paar Fragen zu stellen in der Hoffnung, die Erwähnung eines fernen Glücks in der Straße, die wir mit dem Abstand von einigen Jahrzehnten teilten, könnte ihr Gedächtnis anregen, die Atmosphäre etwas erwärmen, die im Raum so frostig war wie auf den schneebedeckten Straßen draußen. Aber Liselotte Bickenbach hatte schließlich mit schroffer Stimme gemurmelt: «Ja, das waren schöne Zeiten. Ich will darüber nicht sprechen. Es macht mich zu traurig.»
Ihr Sohn Joachim war es, der mir die Geschichte seiner Mutter erzählte. Wir sind uns ganz zufällig in der Buchhandlung meines Viertels begegnet. Ich erzählte der Buchhändlerin über den Verkaufstresen hinweg von meiner Idee, die Geschichte meiner Straße zu schreiben. Ich kehrte gerade unverrichteter Dinge von einer Expedition zu zwei Seniorennachmittagen mit Kaffeekränzchen und Kartenspiel in zwei Pfarreien meines Viertels zurück. Weder die Katholiken noch die Protestanten konnten mir das fehlende Puzzlestück in meinem Projekt liefern: ein Nichtjude, der in den dreißiger Jahren in meiner Straße gewohnt hat. Und es kam nicht in Frage, gegen die Regel zu verstoßen, die ich aufgestellt hatte: Meine Protagonisten mussten in meiner Straße oder an ihrem Platz gewohnt haben. Jemanden zu befragen, der in einer Nachbarstraße gewohnt hat, war ausgeschlossen. Joachim Bickenbach räusperte sich und mischte sich in unser Gespräch: «Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen. Meine Mutter hat vor und während des Krieges in der Nummer 3 des Platzes gewohnt.» Und ohne sich lange bitten zu lassen, begann er, mir zwischen den Krimis und den psychologischen Ratgebern «Das Glück in 10 Schritten» die Geschichte seiner Mutter zu erzählen.
Später ist mir bewusst geworden, dass die Geschichte der Liselotte Bickenbach genau da einzuordnen war, zwischen der Lösung eines Rätsels und der Suche nach dem Glück. Ich dachte an jenem Abend noch lange über das Zusammentreffen all dieser Umstände nach, über all diese Zufälle, die mir ermöglicht haben, die Spur dieser ehemaligen Nachbarn aufzuspüren, die schon lange nicht mehr in meiner Straße wohnen, die aber Zeugen eines Fragments ihrer Geschichte waren. Dass der Sohn der Liselotte Bickenbach von der Nummer 3 am Platz – am selben Tag und zur selben Stunde wie ich – plötzlich Lust bekam, auf den Auslagen der Buchhandlung die neu eingetroffenen Bücher zu durchstöbern … War das ein weiteres kleines Wunder?
«Bei meiner Mutter kann man täglich zugucken, wie die Erinnerung weniger wird. Ich fürchte, ich bin vier Jahre zu spät gekommen mit meinen Fragen», bemerkte Joachim Bickenbach. Während das Gedächtnis seiner Mutter nachließ, füllte sich das des Sohnes. Wie nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren. «Ich weiß mittlerweile mehr als meine Mutter!», stellte der Sohn fest. Man muss dazu sagen, dass Joachim Bickenbach schon lange hinter seinen Familiengeschichten her ist. Wenn es Besuch gab, saß der kleine Radar-Junge am Ende des Tisches. Ein Kind in ständiger Alarmbereitschaft inmitten all dieser großen Leute, die in lebhafte Gespräche verwickelt waren. Er bekam alles mit. Er ortete Indiskretionen, lokalisierte Skandale, fing Familiengeheimnisse auf. Irgendwann vergaßen ihn die Erwachsenen und ließen ihrem Geplauder, das nicht für die Ohren eines Jungen bestimmt war, freien Lauf.
Onkel Rudolf war in einem Taxi tödlich verunglückt und starb an Gehirnblutungen. Tante Klärchen sprang 1943 aus dem Fenster, weil sie – nervlich sowieso labil – durch die Bombenangriffe so belastet war. Tante Paula leitete ein Ladengeschäft für Noten und Musikbedarf. Das Geschäft begann durch den Absatz von Musikinstrumenten für die Kapellen nationalsozialistischer Organisationen richtig zu florieren. Paulas Sohn Otto wurde noch mit 16 von seiner Mutter angezogen. Sie schliefen zusammen im Ehebett. Bevor er starb, brachte Otto sein Geld in der Schweiz in Sicherheit: «Ich würde eher dem Tiergarten was geben als euch!», schleuderte er seinen Verwandten entgegen. Und da ist der kleine Fritz, Gustavs
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