Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
jüngerer Bruder, den seine Geschwister in der NSDAP angemeldet haben, damit es wenigstens ein Parteimitglied gab in der Familie. Fritz bekam sofort eine Arbeit in der Stadtverwaltung. Jahrelang schob er überglücklich einen Aktenwagen durch die Gänge. Es gibt noch ein Foto von Liselotte neben Fritz in Uniform. Wäre da nur nicht diese verflixte Armbinde mit dem Hakenkreuz gewesen. Wenn der Blick im Familienalbum darauf fällt, blättert man schnell weiter: «Das waren andere Zeiten!» Aber da es das einzige Foto seiner Mutter zu Besuch bei ihrer Schwiegerfamilie kurz nach der Heirat ist, hat ihr Sohn für seinen Schreibtisch eine Kopie davon gemacht und den Onkel Fritz herausgeschnitten, um die junge Mutter abzutrennen.
«Damals verstand ich nicht viel davon», sagt Joachim Bickenbach. «Aber jetzt kommt alles zurück: die Namen, die einzelnen Sequenzen … Ich kann unwahrscheinlich gut behalten, wenn geredet wird. Jetzt würde ich gern die Zusammenhänge kennen.» Er hat im Übrigen bereits begonnen, die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben. Der Titel seiner Chronik:
«Was ich alles über meine Mutter weiß.»
Er hat Angst, dass seine Kinder mal nichts mehr einordnen können. Dass diese Erinnerungen «in die Fremdheit abdriften». Er will «festhalten», «fixieren.» Für seine Kinder alles «mundgerecht machen».
Nach dem Tod von Wilhelm Wagner überstürzen sich die Ereignisse. Wenige Tage vor der deutschen Kapitulation und dem Ende des Krieges, am 12 . März 1945 , wird Swinemünde innerhalb kaum einer Stunde durch einen amerikanischen Flugangriff fast vollständig dem Erdboden gleichgemacht. 1609 Tonnen Bomben werden auf die Stadt abgeworfen, in der es von Flüchtlingen aus den östlichen Gebieten wimmelt, die vor der Roten Armee fliehen. Die Straßen von Swinemünde sind von Karren, Tieren, Bündeln und Hausrat verstellt. Ein Blutbad. Das Villenviertel am Strand, wo sich auch das weiße Haus der Bickenbachs befindet, wird verschont. Am 30 . April bringt sich der Führer in seinem Bunker um und Berlin kapituliert. Am 2 . Mai hisst die Rote Armee auf dem Reichstag die rote Fahne. Am 5 . Mai 1945 besetzt sie Swinemünde. Die Stadt ergibt sich kampflos. Sämtliche von Gustav Bickenbach kommandierten Festungen werden besetzt. Deutschland kapituliert am 7 . Mai in Reims und am 8 . Mai in Berlin bedingungslos. Um drei Uhr nachmittags flattern in London Tausende kleine Union Jacks am königsblauen Himmel, die andächtige Menge hört in der BBC Winston Churchills Rede: «Heute eine Minute nach Mitternacht werden die Kampfhandlungen offiziell eingestellt. Wir können uns einen kurzen Moment der Freude zugestehen. (We may allow ourselves a brief period of rejoicing.)» In Paris spricht General de Gaulle: «La guerre est gagnée. (Der Krieg ist gewonnen.) Deutschland ist geschlagen und hat seine Niederlage unterzeichnet. Von neuem erstrahlen unsere Fahnen im Glorienschein des Ruhmes …» In Moskau tanzt eine ausgelassene Menge, um den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg zu feiern, und in New York wird der V-Day zelebriert: Victory!
Am Morgen des 9 . Mai hört Gustav Bickenbach allein in seinem Büro die Bekanntgabe der deutschen Kapitulation im Radio. Der Offizier erhebt sich und geht den Hügel hinter dem Haus hinauf. Minuten später fällt ein Schuss. Gustav Bickenbach hat sich eine Revolverkugel in den Kopf gejagt. Seine Offiziersehre ist zum zweiten Mal verhöhnt worden. Er ist bereits 1918 vor Schande am Boden zerstört heimgekehrt. Der Versailler Vertrag war eine solche Erniedrigung. Er hatte so viel Hoffnung in diesen Krieg gesetzt: Deutschland wird sich revanchieren, den Kopf wieder aufrichten, die geschändete Ehre retten. Und nun kehren die französischen Generäle aus London zurück und werfen sich schon wieder in die Brust. Und die Russen machten sich in den Straßen von Swinemünde breit wie zu Hause.
«Man steht zu dem, was man macht, auch wenn es der letzte Mist ist!», sagt sein Enkelsohn Joachim, als er den höchst preußischen Akt seines Großvaters kommentiert. Der Selbstmord wird sofort «unter dem Mantel des Schweigens» versteckt, wie Joachim Bickenbach die Tabus seiner Familie nennt. Bis zum heutigen Tag kennen die Onkel und Tanten, die Cousins und Cousinen die genauen Todesumstände nicht. Das Ansehen der Familie muss um jeden Preis gerettet werden. Offiziell ist Gustav Bickenbach «in Kriegshandlung vom Gegner erschossen worden». Dieses Verschweigen hat auch eine
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