Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Entbindung geholfen. Ein Schandfleck für die ganze Familie! Joachim erinnert sich, dass es oft Ärger zwischen Mutter und Tochter gegeben hat. Einmal musste sich der Kleine, wie versteinert, anhören, wie Dorothea in einem Wutanfall schrie: «Ich habe deine Geburt sowieso nie gewünscht!» Die Familie ihres Mannes hat Liselotte gezwungen, wieder ihren Mädchennamen anzunehmen. Sie würde den Namen Wagner in den Dreck ziehen!
Liselotte Bickenbach hat ein solches Lügengerüst aufgebaut, so viele wackelige Verbindungen errichtet, Daten versteckt und die Abfolge der Ereignisse verfälscht, dass ihr Sohn Mühe hatte, die Tatsachen zu rekonstruieren. Er versucht, das fragile Gebäude zu stabilisieren. Er möchte seiner Familienchronik einen soliden Unterbau geben. Möchte Antworten auf all die Fragen, die er sich noch heute stellt: Hatte Liselotte Alberts Heiratsantrag aus Scham abgewiesen und sich darauf verlassen, dass sich in den Wirren der letzten Kriegsmonate niemand über diese suspekte Geburt wundern würde? War Albert bereits liiert und hatte aus Verantwortungsgefühl angeboten, bis zur Volljährigkeit für den Kleinen zu zahlen? Hatte sich Liselotte eine leidenschaftliche Liebe ohne Zukunft herbeiphantasiert? Eine romantische Verklärung, um die Sinnlichkeit einer jungen Frau zu kaschieren? Wollte sie, um ihren Ehebruch gutzumachen, eine vorbildliche Witwe sein? Lauter Hypothesen. Heute ist es zu spät. Die Mutter hat ihr Geheimnis mit ins Grab genommen.
Zwei Fotos sagen mehr als sämtliche von Joachim ausgemalte Szenarien. Legt man sie nebeneinander, ist die Metamorphose fast erschreckend. Das erste: ein bildhübsches Mädchen in Shorts und Pullunder am Strand von Swinemünde, sonnengebräunt, strahlend, die Haare unter einem gepunkteten Seidentuch versteckt, Schultern und Beine nackt, die Arme um die Knie geschlungen. Das zweite: Liselotte Bickenbach in den sechziger Jahren in Hagen. In weißer Rüschenbluse, ihre kurzen, dauergewellten Haare von einem schwarzen Stirnband zurückgehalten. Sie hat den Blick leicht zum Himmel erhoben, wie diese kleinen, traurigen Jungfrauen auf den Gemälden bei der Erscheinung des Erzengels Gabriel. Sie presst die Lippen aufeinander. In ihren Augen eine unendliche Traurigkeit. Was ist zwischen den beiden Aufnahmen passiert?
Viele Jahre nach dieser Entdeckung nimmt Joachim an einer Tagung in Hamburg teil. Während der Mittagspause streicht er um das Haus seines Vaters Albert herum. Auf dem Balkon steht ein alter Mann. Zwanzig Meter von ihm entfernt. Joachim geht über den Bürgersteig. Jetzt bloß nicht stolpern, nicht den Schritt beschleunigen, auch nicht stehen bleiben, nicht auffallen. Er hat die Hände in den Taschen und gibt sich gleichgültig. Was für eine absurde Situation. «Was hätte ich denn zu ihm sagen sollen? ‹Guten Tag, ich bin dein Sohn!› Ich wusste, dass er verheiratet war und Kinder hatte. Welche Probleme hätte ich heraufbeschworen? Was hätte ich davon gehabt? Er war ein Fremder. Meine Zeugung ist das Einzige, was uns miteinander verbindet.»
Die ganze Szene dauert vier Minuten. Joachim biegt um die Straßenecke und kehrt zu seinen Kollegen zurück.
Sobald Joachim das Abitur in der Tasche hat, geht er weg. Er studiert Mathematik und Physik in Marburg, eine linke, progressive Universität. Joachim will sich freistrampeln. In Marburg liest er Wolfgang Abendroth, die Standardwerke über die deutsche Arbeiterbewegung, liebäugelt mit der KPD und lässt sich Haare und Bart wachsen. Es ist die Revanche für den «ordentlichen preußischen Haarschnitt», den seine Großmutter ihm verpassen ließ, wenn sie ihren Enkel zum Hagener Friseur brachte. «Ich kann mir zwar nicht vorstellen, was eine Frau daran schön finden kann, aber das musst du wissen!», befindet die Mutter. Genau wie für Liselotte bei ihrer Ankunft in Berlin besteht der erste Schritt in die Freiheit in Marburg in einer neuen Frisur. Auch die Bundeswehr will Joachim abschütteln. Nach Absolvierung des ersten Offizierslehrgangs stellt er nachträglich den Antrag auf Wehrdienstverweigerung. Als er seiner Mutter davon erzählt, beglückwünscht sie ihn. Diese Bundeswehr ist sowieso keine richtige Armee wie die Kaiserliche Armee ihres Vaters. «Ein Glück, dass du nicht zu diesem Haufen gehst! Man kann die nicht ernst nehmen! Zu lasch!»
Joachim Bickenbach erinnert sich an einen Nachmittag vor ein paar Jahren. Er besuchte seine Mutter in Hagen. In der Mitte des Couchtisches stand eine
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