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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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hölzerne Bonbonniere. Um sie herum die Porzellantassen für den Kaffee, das Foto des Testfliegers Wagner in seinem Lederrahmen, ein Porträt von Joachim als Kind, eine Kerze und eine Packung Muratti. Liselotte Bickenbach hatte ihre Inszenierung minutiös vorbereitet. Die Gegenstände ausgewählt und auf dem Tischchen angeordnet. In der Bonbonniere liegt auf einem Wattebausch eine rote Kugel, eine mit dunkelbrauner Flüssigkeit gefüllte Kapsel. Joachim hat immer damit gelebt, «sie gehörte zum Haushalt wie ein Pudel oder eine Katze». Er wusste, dass die Kapsel in einer kleinen Geldkassette mit Schloss aufbewahrt wurde. Und er wusste auch, wo seine Mutter den Schlüssel versteckte. Es ist die Zyanidkapsel, die Liselotte 1945 in Flensburg von einem Offizier des OKM bekommen hatte. Liselotte hatte eine Pistole gegen die Kapsel getauscht, weil sie nicht mit einer Waffe umgehen konnte. Sie wollte sich bis Swinemünde durchboxen, den ganzen, von Russen übersäten Osten durchqueren. Falls sich eine Russenkompanie auf sie stürzen sollte, war sie gewappnet. Und an jenem Nachmittag verkündet die Mutter ihrem Sohn, während sie ihm den heißen Kaffee serviert: «Die möchte ich für den Fall behalten, dass dir etwas passiert. Ich habe Schicksalsschläge genug!» Und dann betrachtete sie die kleine rote Kugel mit beunruhigender Zärtlichkeit.
    Liselotte Bickenbach und Mutti Nehrenberg sind ihr ganzes Leben in engem Kontakt geblieben. Sie machten gemeinsam Ferien in Spanien. Liselotte Bickenbach kam ans Totenbett ihrer früheren Vermieterin, um sich von ihr zu verabschieden. Aber in unsere Straße zurückkehren wollte sie nie. Dabei hatte ihr Joachim eines schönen Sonnentags angeboten, sie im Auto herzubringen.
    Das Haus der Mutti Nehrenberg existiert nicht mehr. Es gehört zu den Gebäuden, die mit « 51 – 100 % schwere Schäden» taxiert wurden bei den Bestandsaufnahmen, die der Bezirk Schöneberg von Groß-Berlin 1947 durchführte. An seinem Platz steht ein Wohnblock aus den späten fünfziger Jahren. Doch da ist der Kinderbrunnen in der Mitte des Platzes, das Lyzeum für höhere Töchter, das zur Volkshochschule geworden ist. Vielleicht können sie ihre Erinnerungen wecken, hofft Joachim. Liselotte Bickenbach weigert sich. «Es war ihre Strategie, mit Verlust umzugehen», sagt ihr Sohn. Ein Strich unter die Vergangenheit. Eines Tages vertraut sie ihrem Sohn an, dass sie auf dem Golm beerdigt werden möchte, auf diesem Hügel von Swinemünde, wo nach den Bombardierungen von 1945 die anonymen Toten in Massengräbern aufeinandergestapelt wurden. Sie will dort «mit allen andern» ruhen. Auf diesem Hügel, über den sie oft gemeinsam mit ihrem Vater geritten ist. Aber Joachim erklärt ihr, dass das nicht geht, weil der Golm eine Gedenkstätte ist. Sie entscheiden sich für eine Seebestattung.
    Liselotte Bickenbach ist am 5 . Oktober 2011 friedlich eingeschlafen. Zwei Tage nach dem deutschen Nationalfeiertag. 96 ½ ist sie geworden. Joachim und seine Kinder sind zum ersten Mal gemeinsam nach Swinemünde gefahren. «Für meine Kinder», sagt Joachim, «ist die Oma eine Figur, die mit viel Nebel verbunden ist.» Die Ostsee war spiegelglatt wie ein Dorfteich. Dicker Nebel bedeckte den Himmel über der Fähre. Die Urne stand, mit ein paar Blumen geschmückt, auf einem kleinen Tisch am Bug des Schiffes. Auf hoher See angekommen, versammelte man sich auf der Brücke. Die beiden Mitglieder der polnischen Crew postierten sich zu beiden Seiten der Urne. Kein Pomp. Keine Rede. Keine Musik. Kein Aufwand. Plötzlich löste sich der Nebel auf. Der Kapitän ergriff die Urne: «Nun, Liselotte, übergeben wir dich der Ostsee!» Sie sank sofort. Nur die Blumen blieben auf der Oberfläche. Die Fähre fuhr noch eine Weile im Kreis darum herum.

Die Möbel müssen gerettet werden
    Es ist Mitternacht. Silvester. Von meinem Balkon herab betrachte ich meine Straße im Kriegszustand. Es knallt und blitzt und donnert. Silberne Kometen durchbohren die Nacht. Über den Dächern explodieren rote und blaue Bouquets. Der Himmel ist erleuchtet wie am helllichten Tag. Ein Geruch nach Schwefel. So ähnlich muss es, sage ich mir, während ich mit den Augen dem Regen des bengalischen Feuers auf dem gegenüberliegenden Gehsteig folge, in meiner Straße bei den Bombardierungen ausgesehen haben, die sie fast vollständig zerstörten.
    Im Repertoire der Kriegsgeschichten, die man sich an französischen Familientischen erzählt, kommen nicht so viele

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