Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
verboten, wie ein Vogel mit den Ellbogen herumzuschlagen, den Mund zum Löffel zu führen und in der Butter rumzustochern. Joachim lernt sogar auf völlig abstrakte Weise, wie man Hummer schneidet und Schnecken aus dem Gehäuse pult. Man weiß nie, wann das mal nützlich wird. Aber statt dieser unbezahlbaren Köstlichkeiten kommt nur ein tristes Abendbrot auf den Hagener Tisch. Man übt sich in der Schiebewurst-Technik, legt sein Wursträdchen aufs Graubrot und schiebt es mit den Zähnen immer weiter zurück, um es als krönenden Abschluss aufzuheben.
Liselotte gehört der Kriegsgeneration an. Nie isst sie ein Stück Wurst ohne Graubrot, und nie schneidet sie ein frisches Brot an, bevor das alte aufgebraucht ist. Abends geht Liselotte Bickenbach in die Waschküche hinunter und rührt mit einer langen Holzkelle in einem großen Kessel die kochende Lauge um. Man fährt nicht in die Ferien. Man gönnt sich nichts. Zwischen dem exakten Büroalltag und den abendlichen Bügelstunden bleibt nicht viel Platz zum Träumen. Liselotte Bickenbach fällt es nicht ein, alles zum Teufel zu jagen: den Bügeltisch, die zänkische Mutter, den Chef und seine Launen und diese kleine Provinzstadt, in der sie sich nicht heimisch fühlt. Als das Unternehmen Krupp ihr eine Stelle in Essen anbietet, lehnt sie ab wegen ihres Sohnes, der in Hagen die Schule besucht. Das ist die Regel: Man opfert sich für die nachfolgende Generation auf. Ihr einziger, geliebter Sohn ist ihr ausschließlicher Lebensinhalt.
Joachim wird das Geheimnis, das er eines Tages entdeckt, als er die Steuerunterlagen seiner Mutter ins Finanzamt Hagen bringt, drei Jahre lang tief in seinem Innern bewahren. Der Kleine ist zwölf. Als er in den Umschlag linst, fällt sein Blick auf das Todesdatum seines Vaters: Der Pilot auf dem Foto stürzt im September 1944 ab. Joachim kommt im Januar 1946 zur Welt. Abends im Bett zählt der Junge wieder und wieder die Monate. Nein, es steht fest, er kann auf gar keinen Fall der Sohn dieses inzwischen über dem brandneuen Fernseher gegenüber dem Sofa gerahmten Mannes sein. Es ist mathematisch unmöglich. Er wagt nicht nachzufragen. Unaufhörlich führt er sich die schlimmsten Szenen vor Augen. Ist seine Mutter auf dem Weg von Flensburg nach Swinemünde von einer Bande nach Schweiß und Wodka stinkender russischer Soldaten vergewaltigt worden? Wieder beginnt er zu rechnen. Mai 1945 bis Januar 1946 , das macht exakt neun Monate. Joachim ist entsetzt. Er hat große Angst, die Wahrheit zu entdecken. Am Abend vor seiner Konfirmation sitzt Joachim mit seiner Mutter beim Essen. Und da enthüllt Liselotte ihrem Sohn ganz nebenbei das Geheimnis. «Übrigens, ich muss dir noch was erzählen …»
Am Tag, an dem sie von Wilhelms Tod erfährt, nimmt sich Liselotte fest vor, nie wieder zu heiraten. Aber sie will ein Kind. Koste es, was es wolle. Also wählt sie unter dem Schwarm der jungen Männer, die ihr den Hof machen, einen Erzeuger aus. In Flensburg sind viele Zivilangestellte stationiert. Liselotte verbringt eine Nacht mit einem Kapitän der Handelsmarine. Er kommt aus Hamburg. Er heißt Albert. Albert ist Joachims zweiter Vorname. Als die Engländer das Zivilpersonal entlassen, gehen Albert und Liselotte noch gemeinsam nach Schwerin, wo sie ein paar Wochen verbringen. Dann trennen sie sich. Als er erfährt, dass Liselotte schwanger ist, will Albert sie heiraten. Sie lehnt es kategorisch ab.
Diese Erklärung ist für Joachim eine immense Erleichterung: «Irgendwas ist passiert, du getraust dich nicht zu fragen, und plötzlich lichtet sich der Nebel!» Liselotte zeigt ihrem Sohn das einzige Bild von seinem Vater: Auf einem blumengeschmückten Balkon in Berlin, an einem gedeckten Teetisch lächelt Liselotte, zart und elegant, die Haare zu einem neckischen Knoten gebunden, zwei jungen Männern in Hemd und Krawatte zu, die sie mit den Augen verschlingen. Der rechts ist Joachims Vater. Sein Gesicht ist kaum zu erkennen. Liselotte erklärt ihrem Sohn, dass er ihr seit seiner Geburt Unterhalt bezahlt. «Es ist meine Entscheidung gewesen», stellt sie klar. «Was du damit machen willst, das steht in deiner Hand.»
Ein außereheliches Kind ist in diesem verklemmten Adenauer-Deutschland eine große Schande. Sie kann das Gespött beim Vorbeigehen bereits hören: Ihr Mann stirbt fürs Vaterland, und sie vergnügt sich in den Armen eines anderen! Eine Schande! Dorothea Bickenbach kennt die Wahrheit. Sie hat ihrer Tochter im Haus von Swinemünde bei der
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