Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
rein praktische Seite. Nach dem Krieg bekommt Witwe Dorothea eine Kriegswitwenrente, die nie so hoch ausgefallen wäre, wenn es sich herausgestellt hätte, dass es ein Selbstmord war. «Noch Jahre später ist dieser Tod in Mark und Pfennig umgesetzt worden. Meine Großmutter war sehr pfiffig. Wenn man lügt und betrügt, dann ist es besser, kein Mensch weiß davon.»
In den letzten Kriegsmonaten arbeitet Liselotte Bickenbach im OKM , dessen Büro in Ausweichquartiere nach Flensburg verlegt worden ist. Am 15 . Juni 1945 wird ihr die KVM überreicht – die Kriegsverdienstmedaille. Eine surrealistische Zeremonie: Die besiegte deutsche Armee dekoriert ihre ergebenen Diener. Am nächsten Tag macht sich Liselotte auf den Weg nach Swinemünde. Seit Wochen fliehen ganze Flüchtlingskolonnen westwärts. Liselotte schlängelt sich in Gegenrichtung durch sie hindurch. «Nehmt euch vor den Russen in Acht!» warnen alle. Als sie in Swinemünde ankommt, ist das Elternhaus von der Roten Armee beschlagnahmt worden. Im Erdgeschoss nimmt ein aus Schneidemühl in Ostpommern geflüchteter Arzt Abtreibungen am Band vor. So viele Frauen sind von den Russen vergewaltigt worden. Dorothea Bickenbach, eine große weiße Schürze um die Hüfte, assistiert. Diese einst so sensible Offiziersgattin hantiert nun mit blutigen Zangen. Liselotte ist schwanger. Einige Monate später, am 18 . Januar 1946 , wird sie vom Abtreibungsarzt entbunden. Ein Junge! Joachim.
Als das Potsdamer Abkommen die Oder-Neiße-Grenze zieht, die die Ostgrenze Deutschlands festlegt, wird Swinemünde zu Swinoujsce und polnisch. Die letzten verbliebenen Deutschen werden vertrieben. Sie verlassen die Stadt in Massen. Liselotte, ihre Mutter und der kleine Joachim haben zehn Minuten, um das Notdürftigste zu packen und ihr Haus zu verlassen. Sie werden an den Bahnhof von Stettin gebracht, wo Eisenbahnwagen warten, die sie in den Westen bringen. Ein paar Wochen leben sie in einem Ausweichlager in der Nähe von Hamburg. Hier wird Joachims Geburtsurkunde ausgestellt. Liselotte würde gerne nach Berlin zurückkehren. Aber ohne Wohnung und ohne Geld? Das Haus von Mutti Nehrenberg ist zerstört worden. In Berlin herrscht großer Wohnungsmangel. Die Flüchtlinge werden auf ganz Deutschland verteilt. Die beiden Frauen werden einem Dorf in Ost-Westfalen zugewiesen. Ihre Gastfamilie verhält sich feindselig. Sie muss eineinhalb Zimmer abtreten. Liselotte arbeitet als Heimnäherin. Sie stellt Regencapes für die in der Region stationierten britischen Soldaten her. Wenn sie die Ware ausliefert, begleitet der kleine Joachim sie. Auf dem Weg über die Wiesen steckt er seinen Stock in die Kuhfladen.
Im Dezember 1950 stellt sich Joachims Tante väterlicherseits auf die Hinterbeine: Ihr kommt jetzt hierher nach Hagen ins Haus! Wir werden schon zusehen, wie wir euch durchgefüttert kriegen! Wir werden das Dach reparieren, das von einer Brandbombe aufgerissen worden ist, und euch eine Wohnung einrichten! Die anderen Verwandten sind weniger begeistert. Gustav Bickenbach ist das einzige der Geschwister, das Hagen verlassen hat, und man hat es ihm nie ganz verziehen. Hierherkommen, die Hochnäsigen aus Swinemünde! Wir waren nie fein genug für sie! Aber jetzt, wo sie in Not sind …, tuschelt man, als Liselotte Bickenbach und ihre Mutter mit ihren drei Habseligkeiten in Hagen, der Wiege der Familie, ankommen.
Liselotte Bickenbach findet in einem Industrieverband in Hagen eine Anstellung als Chefsekretärin. Ihr Schicksal ist eng mit dem ihrer Mutter verkettet, die sie nicht liebt. «Das musste ich durchstehen», sagt sie zu ihrem Sohn. «Die Oma wäre gestorben. Familie ist Familie.» Jahrelang lebt diese aufdringliche Großmutter in der kleinen Hagener Wohnung mit ihrer Tochter und ihrem einzigen Enkelkind zusammen. Und darüber hinaus mag Liselotte Hagen nicht. Sie träumt davon, diese tiefste Provinz zu verlassen. Die Verwandschaftskonstellation in der Familie ihres Mannes findet sie fürchterlich. «Das ist Sodom und Gomorrha!», ruft sie aus, als sie erfährt, dass ihr Schwiegervater neun Kinder und drei verschiedene Frauen hatte. Gustav ist der Älteste der zweiten
«Truppe»
. Liselotte Bickenbach hat alles verloren: ihren Mann, ihren Vater, die Stadt ihrer Kindheit und vor allem die Freiheit ihres Zimmerchens bei Mutti Nehrenberg. Jetzt geht’s ums Überleben.
Joachim wächst in Hagen auf. Ein Kind ohne Vater wie so viele andere. Wenn der Lehrer in der Schule Appell macht und nach
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