Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
Vom Netzwerk:
Nachmittag im Februar, der letzte Schneeregen eines trüben Winters. Nur die Kuppe war zu sehen, die zwischen einer Schrebergartenkolonie und einem Friedhof aus einem dreispurigen Straßennetz hervorragte. Auf der Oberfläche einer ebenen Stadt nimmt schon die geringste Abweichung im Relief gigantische Proportionen an. Aber der Schein trügt: Der Insulaner, 75  Meter über dem Meeresspiegel, ist nicht aus einer tektonischen Bewegung oder einer eiszeitlichen Erosion hervorgegangen. Er ist ein
Trompe-l’Œil
. Ein allzu abrupter Vorsprung, um echt zu sein. Ein Fremdkörper auf dieser endlosen, spiegelglatten Ebene. Die Birken, Kastanienbäume, Brombeersträucher und Nadelhölzer sind Ende der 40 er Jahre in aller Eile angepflanzt worden. Ein grüner Wandschirm, um die Erinnerungen an den Luftkrieg zu überdecken. Sie sind heute so hochgewachsen, dass man auf den herbstlichen Blätterfall warten muss, um in der Ferne den viereckigen Turm des Rathauses Schöneberg, seine im Wind flatternde Fahne auszumachen und irgendwo in der kompakten Masse der Gebäude den Verlauf meiner Straße zu erahnen. Vom Gipfel des Insulaners aus scheint die Stadt weit weg, in einem nebelverhangenen Tal.
     
    1945 binden die Frauen meiner Straße Kopftuch und Schürze um und bilden eine Menschenkette, um den Schutt in die Loren zu schaufeln, die, von einer Dampflokomotive gezogen, über die Trümmerbahnstrecken durch ganz Schöneberg Richtung Insulaner rollen. Zum «Mont Klamott», wie man ihn zu jener Zeit nennt. Stundenlang kratzen die Frauen den alten Mörtel von den Abbruchziegeln, die auf anderen Baustellen zum Aufbau anderer Straßen wiederverwendet werden. Im trockenen Behördenjargon heißen sie «Hilfsarbeiterinnen im Baugewerbe». Die Berliner nennen sie etwas konkreter, vor allem aber zärtlicher Trümmerfrauen. Sie sind männerlos, tapfer, kräftig, packen mit ihren schwieligen Händen und ihrer rohen Kraft an, beklagen sich nie, zeigen keine Schwäche, stellen keine Fragen. Die Trümmerfrauen sind die wenig zimperlichen Matres dolorosae der Stunde null. Einer der Gründermythen des Nachkriegsdeutschlands. Resolut, verbissen, ja gar mit Lust schaffen sie zwölf Jahr Krieg und Diktatur fort. Bald gleicht meine Straße einer Steppe. Alles kahl. Alles glatt. Sie scheint alles vergessen zu haben.
    Die Steine, die von ihrer gewaltsamen Geschichte zeugen, werden in aller Eile unter 125 000  Kubikmeter Humus und Lehm begraben. 50  Zentner Wicken-, Lupinen- und Kleesamen werden gesät, um das Gelände zu befestigen und zu verhindern, dass die Vergangenheit beim ersten Sturzregen wieder zum Vorschein kommt. Stauden, Sträucher und Bäume konsolidieren die Amnesie. Fünf Jahre lang formen die Gärtner des Bezirks mit ihren Händen einen Berg nach Maß. «Aus dem Trümmerschutt des Zweiten Weltkrieges ist ein Hügel entstanden, der in seiner Form den Ausläufern der Endmoränen in der Berliner Landschaft angepasst ist», berichtet das Bau- und Wohnwesen des Bezirksstadtrats am 8 . August 1951 . «Die Bepflanzung ist so gewählt, dass nicht eine gartenartige Anlage entstehen soll, sondern eine Naturanlage mit Baumgruppen und Liegewiesen. Eine Rodelbahn von 400  m Länge soll der Berliner Jugend eine bequeme und gefahrlose Möglichkeit zur Ausübung des Wintersportes bieten.»
    Der Insulaner ist, wie mir bald bewusst wurde, kein düsterer öffentlicher Schuttabladeplatz, keine Warze auf der seidigen Haut der Stadt, die es zu kaschieren gilt. Die Bewohner meiner Straße sind stolz auf ihn. Der Insulaner ist ihr Werk, aus den Steinen und Ziegeln ihrer Gebäude aufgebaut, er ist ihre Antwort auf die harten Schläge, die das Schicksal ihnen versetzt hat. Dass der Insulaner mehrere Jahre lang der höchste Berg von Berlin war, erfüllt sie mit einem kindlichen, aber auch, wie man eingestehen muss, etwas blinden Stolz. «Wenn jeder Bezirk», schreibt der
Tagesspiegel
am 25 . Juni 1950 überschwänglich, «seinen Trümmerberg baut, kann der Magistrat endlich in einem zugkräftigen Reiseprospekt von der ‹Stadt der zwölf Hügel› sprechen und eine stadteigene Berliner Berg- und Talbahn bauen. So wurden vor nicht allzu langer Zeit die damals noch geplanten ‹Schutt-Müll-Hügel› ironisiert: Hygieniker sprachen sogar von ‹Ungezieferzentralen› und befürchteten chronische Leiden durch ‹graue Trümmerstaubwolken›.» Die Zeitung beschreibt die Hügelketten, die schwerbeladenen Lastwagen, die mühsam auf serpentinenartigen Wegen zur Spitze

Weitere Kostenlose Bücher