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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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Gut. Bis heute weiß keiner, was aus ihr geworden ist. Haben die russischen Kampfgruppen sie umgebracht? Sie hatte solche Angst vor ihren eigenen Leuten. Oder ist sie wieder nach Sewastopol zurückgekehrt?
    Als Annaliese Krüger 1947 nach Zehdenick kommt, um die Möbel zu holen, ist Kira verschwunden. Genauso wie die Möbel. Die Dorfbewohner haben sich daran bedient. Annaliese Krüger geht mit den zwölf Fotos in der Hand von Tür zu Tür, um zu beweisen, dass die Möbel ihr gehören. Den ausziehbaren ovalen Mahagonitisch vom Esszimmer haben sie zerhackt. Sie holt sich nur die Stühle zurück. In der Truhe einer Nachbarin findet sie die Tischdecken mit ihrem Monogramm. Die Hauswäsche war als Toilettenpapier benutzt worden. Von dem prächtigen venezianischen Kronleuchter ist nur noch ein Haufen Scherben übrig. Annaliese Krüger tut, als sähe sie die Bücher aus ihrer Bibliothek in den Regalen im Büro des Bürgermeisters nicht. Sie ist auf seine Unterstützung angewiesen. Der Herr Bürgermeister interessiert sich wenigstens für Bücher, denkt sie in einem Anflug von Philanthropie. Der Bürgermeister ergeht sich in Entschuldigungen im Namen seiner Mitbürger. «Einen Strohsack, einmal im Monat frisch aufgeschüttelt, das ist, was sie verdienen!», schimpft er. Aufrecht wie die Tugend steht er vor der Krüger’schen Bibliothek. Die sichergestellten Möbel werden per Spedition nach Erfurt befördert.
    1945 wird Erfurt zunächst von den Amerikanern besetzt. Sie öffnen die Depots der Wehrmacht und verteilen Lederschnürsenkel und Fliegerkekse, Notproviant für Panzer und Flugzeuge. Danach kommen die Russen. Ein Zimmer im Haus wird für einen russischen Offizier aus Georgien beschlagnahmt. Er spricht Französisch, bringt den Damen Geschenke mit. Aber eines Tages verkündet er: «Jetzt kommen die Kampftruppen! Jetzt wird’s ungemütlich!» Am 3 . März 1946 tanzen Annaliese und Wilhelm Krüger im ersten Stock zum Karnevalsball, als ein russischer Offizier aufkreuzt und befiehlt: «Sie haben 48  Stunden, um das Haus zu räumen! Es ist von der Telefonzentrale der Kommandantur beschlagnahmt worden!» Die Krügers dürfen mitnehmen, was sie in den Händen tragen können. Sämtliche Klassenkameradinnen von Ursula kommen, um ihre Hände zu leihen und die Möbel hinauszuschaffen.
    Als sie nach dem Krieg das erste Mal nach Berlin zurückkehrt, begibt sich Annaliese Krüger als Erstes in meine Straße, um die paar Gegenstände zu holen, die sie in der Wohnung gelassen hatte. Die Nummer  19 steht noch immer da. Aber das Dach ist eingefallen, und die oberen Stockwerke sind beschädigt. Ein Teil der Vorderfront ist bereits eingestürzt. «Das Grundstück ist eine verwitterte und baufällige Ruine, die kaum wieder aufgebaut werden kann. Obwohl unmittelbare Gefahrstellen zurzeit nicht festzustellen sind, erscheint Einreißen der Ruine noch im Laufe dieser Bausaison notwendig», dekretiert der Bericht des Baupolizeiamts Groß-Berlin am 21 . Juni 1949 . Ein quergestelltes Holzbrett im Treppenhaus versperrt den Zutritt zu den höheren Geschossen. Es besteht Einsturzgefahr. Leichtsinnig steigt Annaliese über die Sperre und inspiziert die Ruine ihrer Wohnung.
    Ein paar Jahre später wird das Gebäude gesprengt. Einer Legende zufolge war aus einem der Fenster des Hauses geschossen worden. Ein Kämpfer der letzten Stunde? Ein Erleuchteter, der die Kapitulation des Dritten Reiches nicht hinnehmen wollte? Und als Vergeltungsmaßnahme hätten die Russen das Haus in die Luft gejagt. Doch auch die weit weniger abenteuerliche Realität ist pikant. Am 19 . April 1953 beklagt sich ein gewisser Dr. Heinemann, der wahrscheinlich in einem Nachbarhaus der 19 wohnte, per Einschreiben beim Berliner Senat, Abteilung Enttrümmerung: «Hiermit möchte ich den Senat dringend auf einen Missstand aufmerksam machen, der unbedingt beseitigt werden muss. Das Grundstück Nummer  19 , Eckhaus, die Schule für Erzieherinnen, muss unbedingt enttrümmert werden. Abgesehen davon, dass in den letzten Sturmtagen andere Stücke runterkamen, gehen viele Fußgänger in den offenen Trümmern ihre Geschäfte verrichten, und das angesichts der unzähligen Mädchen in der Schule. Außerdem befindet sich gegenüber der Garten des Kinderkrankenhauses, in dem die Kinder auf Liegebetten frische Luft atmen sollen.
    Aus sanitären und sittlichen Gründen bitte ich, das Eckhaus so bald als möglich einzureißen und reinen Tisch zu machen, andernfalls ich mich an alliierte

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