Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Epoche wie die Nummer 19 in meiner Straße. Die Wohnung hatte dem Hotel Walther, einem Etablissement von zweifelhaftem Ruf mit dem Spitznamen «Ami-Puff», als Dependance gedient. Annaliese Krüger ist 61 und erklärt: «Ich ziehe nicht mehr um.» Ihr großer Lebensmut ist gebrochen.
Ursula Krüger lebt seit 50 Jahren in der großen Wohnung ihrer Mutter in Lichterfelde-West. Als ich sie zum ersten Mal betrat, hatte ich den verwirrenden Eindruck, mit beiden Füßen in einer genauen Nachbildung der Nummer 19 meiner Straße zu stehen. Als hätte ein Zauberer mit den Fingern geschnipst, und ping!, den zwölf Fotos ein polychromes Leben eingehaucht. Ursula Krüger hat Zimmer für Zimmer das Dekor ihrer Kindheit rekonstruiert. Die meisten Möbel haben den Bomben standgehalten, den sukzessiven Vertreibungen, den Plünderungen der Nachbarn, der Zwangsverwaltung der DDR , den administrativen Schikanen, dem Zahn der Zeit. Sie sind von den Möbelpackern misshandelt, vom Warenzug durchgeschüttelt worden. «Es hielt alles. Wenn Sie einen Stuhl gekauft haben, hielt er auch 30 Jahre. Alles gut gezimmert, ging nicht aus dem Leim wie heutzutage», sagt Ursula Krüger, für die IKEA die Verkörperung des Verfalls ist. Sie ist stolz darauf, in ihrem Leben nur drei neue Möbel gekauft zu haben: ein ausziehbares Sofa, ein Treckerbett und einen Bücherschrank.
Eine beinahe perfekte Restitution. Die Uhr hat, auf den Zentimeter genau, ihren Platz auf dem Bücherregal wiedergefunden. Die Möbel stehen in derselben Anordnung. Ursula Krüger hat Angst, sie könnte durch ein Verrücken die so zarten Erinnerungen verscheuchen. Die Zimmer zur Straße gleichen dem überquellenden Laden eines Trödelhändlers. Alles ist vollgestellt. In einer Schublade wild durcheinander der Pullover ihres fünfjährigen Bruders, das Familienbuch ihrer Eltern, mit einem Gummi zusammengehaltene Briefbündel, das Armband mit zwei Anhängern, Eiffelturm und Triumphbogen, Andenken, die ihr der Vater als Soldat aus Paris mitgebracht hat. In der Wohnzimmervitrine eine ganze Schar von Porzellanfiguren, Hirtinnen, Schornsteinfeger, Balletttänzerinnen und Kolibris. Hinter einem Inselchen aus Grünpflanzen springt die Büste einer muskulösen Venus hervor. Die Siegespalme der überflüssigen Objekte erhalten die silbernen, mit einer Zahl gekennzeichneten Klammern, die man über den Rand seines Cocktailglases streift, um es zu identifizieren und die Mikroben und Lippenstiftspuren der anderen Gäste zu vermeiden. Ein Anhänger von Feng-Shui müsste hier wahre Angstzustände ausstehen. Jeder Zentimeter der Wand ist von einem Gemälde besetzt. Sogar hinter dem Mantelständer im Flur hängt eins. Neben dem Klavier das Porträt von Mariechen, der schizophrenen Cousine, die die Nazis umgebracht haben. Und selbst die Urahnin Sidonie mit den sieben Kindern und dem bösen Blick hängt noch immer an der Wand.
In letzter Zeit verbringt Ursula Krüger schlaflose Nächte. Sie ist wieder auf der Lauer. Sie lauscht der Stille … «Wer soll das alles nehmen nach meinem Tod?» Die junge Generation will nichts mehr wissen von diesen sperrigen Möbeln, von diesen Goldrandtellern, die nicht in die Spülmaschine dürfen. Ursula Krüger erwägt, einige Stücke dem Kunstgewerbemuseum zu vermachen. Aber wer weiß, ob der Konservator sie überhaupt nehmen würde. Ob sie es wagt, diese Möbel, die die Mutter ihr Leben lang von einem Ort zum anderen gerettet hat, beim Trödler zu verscherbeln? Unmöglich. Sie hätte das Gefühl, ihr post mortem einen Dolchstoß zwischen die Schulterblätter zu versetzen. Also wälzt sich Ursula Krüger in ihrem Bett. Sie horcht auf die Straßengeräusche. «Man wird verrückt», sagt sie. «Man behält alles und kriegt keine Ruhe.»
Das Dach der Welt
Glaubt man meinen Nachbarn, hätte man nach dem Krieg aus den Trümmern meiner Straße den Mount Everest errichten können. Sie beschreiben mir Kämme und Schluchten, Kulme und Kuppen, ein atemberaubendes himalayisches Relief, das sich an der Grenze zwischen zwei Berliner Bezirken über der Asphaltwüste erhob.
Ich habe den Insulaner bestiegen, wie die Berliner den künstlichen Hügel nennen – 1 , 5 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt auf einem großen Brachgelände, vor dem «Zusammenbruch» ein Müllabladeplatz zwischen Lehmgruben, Flakstellungen und Sommerlauben –, zu dem die Trümmer der Gebäude aus meiner Straße unmittelbar nach dem Krieg aufgeschüttet wurden. Es war an einem
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