Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Soldatenmantel der Wehrmacht … ein Wintermantel. Aus dem Verdunkelungsvorhang … eine schwarze Hose. Aus Stahlhelmen … Kochtöpfe. Aus Kartoffeln und Haferflocken … Torten. Und es gab nur Ersatzkaffee. Damals blieb kein Stückchen Papier auf der Straße liegen. Alles wurde verwertet. «Unsere Generation hat viel durchgemacht! Was hat man alles durchgemacht, Junge, Junge …»
«Durch» und «aus» heißen die Präfixe der Nachkriegszeit. Durchgemacht, durchgehalten, durchgekommen, durchgefroren … ausgebombt, ausgehungert sind die Verben, die die Gespräche meiner Straße rhythmisieren. Klagende Gespräche, voll von Opfergeist und Schmerz.
Die Kaiser-Barbarossa-Apotheke, deren Gebäude auf dem Platz vollständig zerstört wurde, zieht in die Nummer 26 . Am 23 . Januar 1952 beklagt sich der Apotheker Ludwig Guercke in einem Brief ans Finanzamt:
«Ich empfinde diese Zahlungsaufforderung als außergewöhnliche Härte und zwar aus dem Grunde, dass ich als Totalbombenbeschädigter alles Betriebsvermögen der Apotheke verloren habe. Außerdem am 28 . April 1945 den Totalverlust meiner Wohnung zu verzeichnen habe.
Dass ich außerdem den Tod meines an der Front gefallenen Sohnes zu beklagen habe, möchte ich am Rande miterwähnen.
Die jetzige Apotheke befindet sich in einer Ruinengegend, und es ist daher unmöglich, aus den an und für sich geringen Umsätzen nebenher Verbindlichkeiten erfüllen zu können.
Das Finanzamt hat von diesen Tatbeständen Kenntnis und hält es für angebracht, die Steuerbeträge von mir zu fordern.»
Man wird nicht müde, von der Ankunft der Siegermächte zu erzählen. Zuerst die Russen. Armselig und verhungert waren sie über den Schutt hinunter in die Keller gekommen, wo sich seit drei Tagen ein kleines verängstigtes Völkchen verkrochen hatte. Man erzählte mir, eine Nachbarin habe am Eingang ihres Kellers eine rote Fahne aufgehängt. Sie hatte das Hakenkreuz aus ihrer Nazifahne geschnitten und die Teile wieder zusammengenäht.
Der Bolschewik
ist noch schlimmer als in der nazistischen Propaganda. Die Russen hacken die Bäume um, monopolisieren die Wasserpumpe vor der Nummer 3 und vergewaltigen die Frauen. «Sie haben genommen, was ihnen unter die Finger kam», sagt Frau Rath. «Wenn ich in den Fernsehnachrichten Russen in Uniform sehe, wird mir noch immer ein bisschen schlecht.»
Im Sommer 1945 tauchen an der Straßenecke die ersten amerikanischen Panzer auf. Die Amis sind satt, sauber, tragen neue Uniformen und blanke Stiefel. Sie bringen Weißbrot, das man mit Lebensmittelkarten erwerben kann. Meine Straße wird dem amerikanischen Sektor zugeteilt. In dem Klassement der Besatzungsmächte stehen die Russen ganz unten, die Franzosen gelten als mittelmäßig, die Engländer oft als sadistisch. Bei den Amis ist man sicher, anständig behandelt zu werden. Sie haben ein ordentliches Clubhaus neben der Post in der Hauptstraße. Hier tanzen sämtliche Mädchen mit den schönen Sergeants der US -Army Boogie. «Na sagen Sie mal!», empört sich Frau Rath, die nicht für ein Amiflittchen gehalten werden will. «Ich war verheiratet. Ich hatte den Haushalt. Ich konnte nicht tanzen gehen!» In ihren Augen haben die Amis einigen Verfall zu verantworten: «Bei uns war es sehr ordentlich vor dem Krieg. Es gab Schulkleidung und Sonntagskleidung. Heute rennen alle mit Jeans rum. Das haben wir von den Amis übernommen. Der Deutsche macht alles nach. Dabei sind wir eine Kulturnation!»
Wenn man genau auf das Timbre in der Stimme von Frau Rath achtet, bemerkt man einen Hauch Stolz, ja vielleicht gar eine Regung der Freude, dass man das alles «geschafft» hat. Frau Rath erinnert sich gerne an diese Jahre der Entbehrungen. Sie und ihr Mann haben mit nichts angefangen. Sie haben so viel durchmachen müssen. «Heute sollten sie sich eine Scheibe davon abschneiden! Wie schnell haben wir wieder aufgebaut!» Frau Rath kann es noch immer nicht fassen. «Wie wir gebaut haben, Junge, Junge. Alles war kaputt. Und Mitte der Fünfziger ist Deutschland wieder wirtschaftlich an der Spitze. Heute stehen wir besser als alle anderen da.»
Von ihrem Zimmerfenster im Altersheim aus beobachtet Frau Rath den Weihnachtsmarkt unten auf dem Platz. All diese unnützen Gegenstände, dieser lächerliche Klimbim, diese Pyramiden von Süßigkeiten. Diese ganze Überfülle. Sie gehört einer Generation an, die ihren Teller leer isst, die Reste verwertet und das Geschenkpapier glättet, um es nächstes
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