Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Wirtschaftswunderland, dieser trotz Wiedervereinigungsparolen saturierte Wohlfahrtstaat, in dem es sich so prächtig leben und demonstrieren lässt, diese gutbürgerliche Gesellschaft mit dem neuralgischen Außenposten Berlin die große innenpolitische Bewährungsprobe zu bestehen hat. Unwetter der Gewalt gehen über deutschen Städten nieder. Und es erhebt sich die bange Frage, ob wir diese Probe bestehen oder ob erneut deutsche Bereitschaft zum kompromisslosen politischen Hass die junge demokratische Gewöhnung an Toleranz und Freiheit des Andersdenkenden durchbricht.»
Vor allem aber verlangen die jungen Deutschen Rechenschaft von ihren Eltern: «Was habt ihr damals gemacht?» Auseinandersetzung, Aufarbeitung, Vergangenheitsbewältigung sind die Schlagwörter der damaligen Zeit. Ich weiß nicht, ob die Revolution 1968 auch meine Straße erschüttert hat, ob diese legendären Mahlzeiten, bei denen die Söhne ihre Väter angreifen, auch in ihren Wohnungen stattgefunden haben, ob die Ladenbesitzer die Langhaarigen aus den WG s auch hier mit gehässigen Blicken musterten. Dagegen weiß ich, dass das
Schöneberger Echo
die wahre Besorgnis der Bewohner meiner Straße in jenem Jahr zum Ausdruck bringt:
« ABC Barkredit. Einfach und schnell.
Für die moderne Küche
Für die neuen Möbel
Für den neuen Fernseher
Für die neuen Gardinen und Teppiche.»
«So darf es nicht weitergehen!
Immer noch nehmen die Verkehrsunfälle zu!
Und darum:
Vorsicht, Rücksicht und Nachsicht im Straßenverkehr!»
«Großzügige Spender gesucht! Immer wieder Klagen über zu wenige Parkbänke.»
«Nicht jeder kann ein Spitzensportler sein, Bowlen jedoch kann jeder!»
«Die teuerste Krankheit Zahnkaries nimmt unaufhaltsam zu!»
«Vorbeugen ist besser als Heilen! Tuberkulose-Impfschutz für Kinder des Einschuljahrgangs!»
Und die Werbung: « VW Automatic. Kein Kuppeln. Kein Schalten.» … «Beneidenswert schlank auf neue Art. Playtex Lycra Hüfthalter. Miederhöschen mit kurzem oder langem Bein» … «Dänemark, Norwegen, Schweden. Unsere große Fahrt nach Skandinavien mit modernsten Düsenflugzeugen und Pullmanbussen» … «Hausputz ohne Mühe. Wenn Sie gern den Teppich auf der Stange klopfen. Wenn Sie beim Bohnern gern auf Knien liegen. Wenn Sie gern Staub aufwirbeln, dann brauchen Sie weder Staubsauger noch Bohner. Aber mit Elektro Staubsauger und Bohner sparen Sie Ihre eigene Kraft und gewinnen Sie Zeit.»
Nur eine einzige, kurze Meldung in der vierteljährlich erscheinenden Zeitung, die ich für das Jahr 1968 konsultiert habe, erinnert daran, dass der Krieg seine Spuren hinterlassen hat: «Vom Tiefbauamt Schöneberg sollen in Kürze umfangreiche Straßenbauarbeiten in folgenden Straßenzügen durchgeführt werden … Um Unglücksfälle zu vermeiden, wird die Bevölkerung gebeten, das Bekanntsein vergrabener Munitionsreste oder Blindgänger aus der Kriegszeit zu melden.»
John Ron und seine Schwester spazieren durch Berlin. Ilse hat nie aufgehört, ihren Bruder Hans zu nennen. Und hier klingt dieser Vorname seltsam passend. «Ich musste noch einmal meine Füße auf dem Berliner Pflaster spüren! Da ist ein Teil von mir!», vertraut Ilse ihrem Bruder an, der erwidert: «Wenn du sagtest: ‹Ach Gott, wie schön es wäre, wieder in Berlin zu leben›, würde ich dich fragen: ‹Was ist mit dir? Ist dir schlecht? Brauchst du ein Aspirin?›» Gemeinsam wagen sie es. Sie klingeln an der Tür der ehemaligen Wohnung der Rothkugels. Eine Unbekannte öffnet. Sie stellen sich vor. Die Frau lädt sie zu einer Wohnungsbesichtigung ein. Alles ist verändert. Die Wohnung ist jetzt zweigeteilt. In den vorderen Räumen wohnen fünf oder sechs Mieter. Alle diese Namen auf dem Klingelschild! Eine Wohngemeinschaft. Nur die Küche ist noch da. Die Speisekammer, das Spülbecken, der große Abwaschtisch, die blauweißen Kacheln. Es riecht noch genauso wie 1933 .
Es war sein letzter Besuch. John Ron ist nie mehr nach Berlin gekommen.
Lilli und Heinrich Ernsthaft kehren 1946 zum ersten Mal «per Taxe» in ihre alte Straße zurück. Die Nummer 3 ist eines der wenigen Gebäude, die noch stehen. Es befindet sich in erbärmlichem Zustand. Als der Eigentümer Oskar Lohmann aus der Kriegsgefangenschaft kommt, sorgt er rasch für das Nötigste: Mit spärlichen Mitteln werden ein Dach und eine Fassade zusammengeschustert, um das Haus vor der Witterung zu schützen. Die Wohnungen sollen wieder bewohnbar sein. Die Mieten
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