Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
sollen reinkommen.
Die schöne Wohnung wird wie das Leben der Ernsthafts in zwei Teile gespalten. Die Hinterhauswohnung ist bewohnt. In der Vorderhauswohnung sieht es desolat aus, aber sie ist immer noch unter dem Namen von Heinrich Ernsthaft gemeldet: «Der Parkettfußboden hatte sich in den Zimmerecken wie Rosenblätter aufgerollt, viele Möbel fehlten, aber zu unserem Glück waren die großen, schweren und zum Teil eingebauten Möbel stehen geblieben, weil niemand sie anheben und fortschaffen konnte. Wir waren überrascht, dass immerhin noch so viel übriggeblieben war, und da viele nicht einmal mehr ein Bett besaßen, erschien es nur verständlich, dass sie sich in einer anscheinend herrenlosen Wohnung mit den Dingen versorgten, die sie benötigten», kommentiert Lilli Ernsthaft.
Die Wohnung ist unbewohnbar. Die Ernsthafts bleiben in ihrem kleinen Zimmer im Schwesternheim des Jüdischen Krankenhauses. Aus dem stolzen Geschäftsmann ist ein «Opfer des Faschismus» geworden. Auf dem Foto seiner provisorischen Identitätskarte blickt einem eine unbeschreibliche Traurigkeit entgegen. Im Feld
nationalité
auf der französischen
Carte d’identité de personnes déplaceés
von Lilli Ernsthaft – das Jüdische Krankenhaus befindet sich im französischen Sektor – steht: «Indeterminée» (unbestimmt). Erst im Jahr 1950 nimmt sie wieder ihre österreichische Nationalität an. Harry wird Englisch- und Musiklehrer am Französischen Gymnasium und beginnt ein Studium an der Humboldt-Universität.
Nach dem Tod ihres Mannes am 21 . April 1947 nimmt Lilli Ernsthaft die Renovierung der Wohnung in Angriff. Eine ausgebombte Familie ist darin eingewiesen worden. «Zu ihrer Ehre sei gesagt, dass sie nicht einzogen: Die beiden Frauen meinten, das gäbe nichts Gutes», bemerkt Lilli Ernsthaft.
In einem Brief vom 25 . März 1943 , der im Brandenburgischen Landeshauptarchiv erhalten ist und den nervösen Stempel
«Eilt!»
trägt, bittet die Reichstagsverwaltung den Oberfinanzpräsidenten Brandenburg – auf Empfehlung des Herrn Präsidenten des Großdeutschen Reichstags, Reichsmarschall Göring, der «wünscht, dass alles getan wird, dem ausgebombten Dr. Schneider den schweren Verlust sobald als möglich zu erleichtern» –, besondere Sorgfalt darauf zu verwenden, Dr. Richard Schneider, Regierungsrat beim Großdeutschen Reichstag, in einer «angemessenen freigemachten Judenwohnung» unterzubringen.
1948 informiert Dr. Richard Schneider Lilli Ernsthaft: «Die gesamte Einrichtung Ihrer Wohnung hatte die Firma Neugebauer, ein Möbelgeschäft, käuflich, aber nicht im Wege der Zwangsversteigerung erworben. Aus diesem einschlägigen Unternehmen habe ich einen Teil der Möbel ordnungsmäßig gekauft. Wie ich erfahren hatte, hatte vorher die Gestapo aus der Wohnung wohl die wertvollen, leicht beweglichen Gegenstände gestohlen. Als Ihr Haus im November 1943 ebenfalls durch Bombenangriff schwer betroffen und Ihre Wohnung durch Wasser stark beschädigt war, habe ich mit einem größeren Handwagen die leichter zu transportierenden Sachen sicherheitshalber in die Kellerräume des alten Reichstagsgebäude am Königsplatz schaffen lassen.» Dr. Schneider fügt eine Skizze von den Kellerräumen des Reichstags bei. «Wer die anderen Sachen gekauft hat, weiß ich nicht, jedenfalls waren, als meine Frau zum ersten Mal die Wohnung betrat, alle Schränke und Behälter leer. Meine Frau vermutet, dass der Inhaber der Firma Neugebauer die Sachen für seine Tochter, die sich damals verheiraten sollte, genommen hat.
Wir haben die von uns gekauften Sachen nicht benützt. Wir haben auch nicht die Absicht, sie zu benützen. Wir würden sie Ihnen gern insgesamt überlassen, und wir nehmen an, dass die Stelle, die Ihnen gegenüber zur Wiedergutmachung des Ihnen zugefügten materiellen Schadens verpflichtet ist, mir die Kaufsumme, die ich für die Sachen gezahlt habe, entrichten wird.»
«Wenn es dir mal schlechtgehen sollte, denk an die Prothese!» Lilli Ernsthaft hat diese Mahnung ihres Mannes nicht vergessen. Mit dem Erlös vom Verkauf der Zahnprothese aus Platin repariert sie das Parkett, und es bleibt sogar ein wenig Geld für zwei Sessel übrig. «Gute Freunde hatten Bettwäsche und Tischtücher, Kissen und Flügel aufbewahrt. Natürlich war es vorerst ein Provisorium, aber die meisten Menschen lebten zu jener Zeit in einem Provisorium.»
Wie konnte sie dahin zurückkehren, wo sie nur knapp der Deportation entkommen war, sie, deren Sohn
Weitere Kostenlose Bücher