Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
dieses Arbeitsethos. In ihren Augen gibt es nichts Schlimmeres als die Taugenichtse und die Hallodris von heute.
Meine Straße jener Zeit weckt Kindheitserinnerungen in mir. In den sechziger Jahren bin ich noch ein ganz kleines Mädchen. Aber wenn meine französische Familie sonntags am Tisch sitzt, höre ich den Erwachsenen zu. Ich höre ihre Faszination, ihre Verblüffung, ihren Zorn manchmal und mit Sicherheit eine gute Dosis Neid und Missgunst, wenn sie über Deutschland sprechen. Die Stimme meiner Großmutter, ihr spöttischer, fast gehässiger Ton, der so schlecht zu ihr passt, zu ihr, die immer lustig und großherzig ist, wenn sie bekannt gibt: «Wenn man bedenkt, dass sie den Krieg verloren haben, und jetzt sind sie reicher als wir!» Sie kann es einfach nicht fassen. Und sie verhehlt nicht, dass sie diese unverdiente
Success Story
, die sich die Kriegsverlierer da leisten, zutiefst ungerecht findet … Und wenn sie sich ein wenig gehen lässt, sagt sie
«les Boches»
.
Deutschland ist in so kurzer Zeit zur zweiten Wirtschaftsmacht der Welt geworden, zum Helden der Haushaltsgeräte und Werkzeugmaschinen, des Automobils und der Chemie. Deutschland ist satt, in seinen Wohlstand eingekapselt, zufrieden mit sich selbst. Ich höre noch meine Mutter, die den «Spiegel», den sie stets nach dem Mittagessen zum Kaffee auf dem Balkon liest, zuschlägt und meinen Vater zum Zeugen nimmt: «Hör dir mal das an! Nahezu zwei Drittel der Deutschen haben den Eindruck, die glücklichste Zeit ihrer Geschichte zu erleben!» Und ich höre meinen Vater, der ihr antwortet: «Vor lauter Fleiß und Anstrengung denken sie kaum mehr an die Vergangenheit. Das ist praktisch. Für sie ist der Nazismus nur noch ein schlechter Traum und der Krieg ein kurzes Zwischenspiel.» «Arbeit ersetzt Trauerarbeit!», erwidert meine Mutter, die das irgendwo gelesen hat.
Ich erinnere mich an Sonntagsausflüge in den Schwarzwald auf der anderen Seite der Grenze, nach Freiburg, Karlsruhe, Offenburg, Baden-Baden. Die spitzen Bemerkungen im Familienauto angesichts dieser perfekt wiederaufgebauten Städte, die hinter den Scheiben vorbeiziehen, die kilometerlange Werbung an den Wänden. Bosch – AEG – Miele – Mercedes – Volkswagen – Kaffee Hag – Dr. Scholl – Dr. Oetker – Nivea – Sparkasse – Reisebüros … Ein Defilee solider, anständiger Produkte. Und diese dicken Wagen längs des Gehsteigs. Die rot-weiß karierten Tischdecken in den Gaststätten, die schmalzigen Schlager im Radio, die Menschenmenge, die aus der Sonntagsmesse kommt. Eine biedere Idylle. Alles sauber, alles korrekt.
Der Ausdruck
«Le miracle économique allemand»
, das deutsche Wirtschaftswunder, begleitet mich durch die ganze Kindheit. Eine Beschwörungsformel, die die Erwachsenen mit runden Augen, voller Bewunderung und Neid aufsagten. Deutschland stellte sich mit einer ungeheuren Energie wieder auf die Füße. Und lange glaubte ich ganz im Ernst, die Deutschen seien ein mit Zauberkräften ausgestattetes Volk, das, ein wenig wie Jesus aus dem Religionsunterricht, der fähig war, Brote und Fische zu vermehren, den Horror in Erfolg zu verwandeln wusste, die Schande in das gute Gewissen der erfüllten wirtschaftlichen Pflicht, die Apathie in Leistungswut, die Ruinen in adrette, hinter ihren Geranien erstickende Einfamilienhäuser. Natürlich ist das Baden-Württemberg der sechziger Jahre nicht Berlin. Die Nachkriegszeit dauerte in der armen Frontstadt viel länger als im Spare-spare-schaffe-schaffe-Häusle-baue-Ländle. Aber meine Straße scheint trotz alledem ein bescheidener Teil dieses Wohlstands-Wunderlandes zu sein.
Totgeglaubte kehren zurück
1957 kehrt John Ron zum ersten Mal in unsere Straße zurück. 21 Jahre, nachdem er in einem Zug nach Venedig geflüchtet ist. Aber es kommt nicht in Frage, sich vom Zufall der Erinnerungen treiben zu lassen, in Emotionen zu schwelgen. Er ist mit einem ganz bestimmten Ziel gekommen: Er will mit einem spezialisierten Anwalt das administrative Vorgehen besprechen, um beim Entschädigungsamt Berlin eine Anmeldung von Geldansprüchen gegen das Deutsche Reich einzureichen, was möglich geworden ist durch «eine ehrenwerte Geste Konrad Adenauers, der mir eine finanzielle Kompensation für den Verlust meiner Eltern und den Abbruch meiner Bildung gewährte».
Es ist ein Blitzbesuch. Vierzehn Tage. Kein Tag mehr. John Ron mietet ein Zimmer bei einer «sehr angenehmen» Wirtin, die ihm am Morgen Kaffee
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