Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
sich zwei Jahre wie ein gehetztes Tier in einem Keller verkrochen hatte, deren Mutter in Theresienstadt ermordet worden ist? Keiner der Juden, die in den dreißiger Jahren aus meiner Straße emigrieren mussten, hat auch nur einen Augenblick in Erwägung gezogen, nach dem Krieg wieder in Deutschland zu leben. Lilli Ernsthaft ist die Einzige, die sich entschieden hat zu bleiben. Der neue Staat Israel verurteilt in den fünfziger Jahren die Juden, die weiterhin
«auf der blutgetränkten Erde Deutschlands»
leben, aufs Schärfste. Und Lilli Ernsthaft lässt sich wieder in derselben Straße, im selben Haus nieder. Was sollte aus dieser in Trümmer liegenden Straße werden? Welchen Platz wird eine überlebende Jüdin darin haben? Wie werden die Nachbarn reagieren, die ihr plötzlich auf der Straße begegnen? Werden Sie den Blick zu Boden senken? Oder sie im Gegenteil anstarren, als hätten sie einen Geist vor sich? «Die Wohnung war ihre Heimat, ihre Höhle, ihre Zuflucht», versucht ihre Nichte Elga eine Erklärung.
Der Antisemitismus hatte sich nicht in Luft aufgelöst. Die Straße war nicht mit dem Zauberstab auf einmal entnazifiziert worden. Wie konnte Lilli Ernsthaft wieder ihr Brot bei dieser selben Bäckerin kaufen, die ihr noch vor wenigen Jahren, als sie sich weigerte, sie zu bedienen, an den Kopf geworfen hat: «Ich bin juristisch im Recht!» Wie konnte sie zum Apotheker Ludwig Guercke in die Kaiser-Barbarossa-Apotheke zurückkehren, seit 1935 Parteigenosse, der am 12 . Januar 1942 den Polizeipräsidenten aufforderte, ihm eine Wohnung in der Nähe seiner Apotheke zuzuteilen: «Vielleicht könnten Sie, Herr Polizeipräsident, durch Ausstellung einer Dringlichkeitsbescheinigung mir behilflich sein, mir zu einer von Herrn Generalbauinspektor Speer in dieser Gegend beschlagnahmten Judenwohnungen zu verhelfen. Ich bin im 60 . Lebensjahre und arbeite ohne weiteres Fachpersonal nur mit meiner Frau in der Apotheke. Wegen der großen Entfernung von meiner Spandauer Wohnung kann ich auch mittags nicht nach Hause fahren und bin daher von früh 8 Uhr bis abends 8 Uhr im Dienst. Diese Arbeitszeit und die Ernährungsfrage stellen erhebliche Anforderungen an unsere Gesundheit. Heil Hitler!» Wie konnte Lilli Ernsthaft sich mit diesen selben Nachbarn, die einst aus ihren Fenstern am frühen Morgen dem Einsammeln von 13 Juden aus ihrem Gebäude zusahen, auf einen kleinen Schwatz auf dem Treppenabsatz einlassen?
Lilli Ernsthaft war eine lästige Zeugin. Man hütete sich, sie zu fragen, wie sie überlebt hatte. Und sie hütete sich, die Gespräche auf rutschiges Gelände zu bringen. Hatte sie vielleicht Angst, zu hören, was sie zu sagen hatten? Hoffte sie, wenn sie so tat, als sei nichts gewesen, wäre sie fähig, den dünnen Faden ihres früheren Lebens wieder aufzunehmen? Wovon man nicht spricht, das existiert schließlich nicht. Und vor allem: Was macht diese so lebenslustige, höfliche Frau mit ihrer Trauer, ihrer Angst, ihrem Groll, ihrem Zorn und vielleicht ihren Rachegedanken?
Sobald Lilli Ernsthaft in unsere Straße zurückgekehrt ist, steigt sie wieder auf das große Karussell der gesellschaftlichen Verpflichtungen auf. «Leider Gottes», schreibt sie wie nebenbei, «habe ich heute nur noch zwei jüdische Bekannte.» Das Ehepaar Kutschera kehrt 1945 aus Theresienstadt zurück. 1946 können sie den Betrieb im Café Wien wieder aufnehmen. Karl Kutschera versucht zu vergessen, dass er einer der ersten Unternehmer gewesen war, der in den Fokus des
Stürmers
geriet. Das Nürnberger NS -Wochenblatt hatte eine heftige Kampagne gegen das «Judeneldorado des Kurfürstendamms», den «Schmutzjuden» Kutschera lanciert. Er versucht zu vergessen, dass er 1937 , um die Schließung seiner Einrichtung zu verhindern, gezwungen war, sie an zwei nichtjüdische Mitgesellschafter zu verpachten. Jeden Tag wird er von Schwindel ergriffen, wenn er an seine Kinder Karin und Gert denkt, die nicht aus dem KZ zurückgekommen sind. Er stirbt 1950 an Herzmuskelschwäche, ein gebrochener Mann. Seine Frau führt die Geschäfte bis Anfang der siebziger Jahre weiter.
Doch die Ernsthafts knüpfen auch wieder mit Freunden an, «die mit den Nazis sympathisiert und sich diskret verdrückt hatten». Gleich nach dem Krieg – sie wohnen noch im Jüdischen Krankenhaus – essen sie «mit unseren Freunden Fritz Aschinger und Kommerzienrat Lohnert im Restaurant». Worüber unterhalten sie sich an jenem Abend? Fritz Aschinger, der Trumpf im mondänen
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