Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
kocht und Leberwurststullen schmiert. Man spricht über das Wetter, das für einen Juli recht unfreundlich ist. Über die Vergangenheit kein Wort. «Einmal abgesehen von den üblichen Klagen über die Bombardements und die von den Russen vergewaltigten Frauen. Die Deutschen hatten das gute Gewissen von Leuten, die wirklich gelitten haben», stellt John Ron fest. Er ist überzeugt, dass seine Vermieterin weiß, dass er Jude ist, «aber selbst das Wort Jude war tabu». Im Übrigen hätte er es unangebracht gefunden, ihr zu erzählen, was seiner Familie passiert ist.
Abends, wenn er im Bett liegt, kommen die Fragen hoch: Warum ist er eigentlich nach Deutschland zurückgekehrt? Um in einer Konditorei seinen liebenswürdigen alten Volksschullehrer zu treffen? Um diese christliche Freundin seiner Mutter zu besuchen, die ihm das Hochzeitskleid aus weißem und gelbem Satin von Irma Rothkugel übergibt und ihm mitteilt, dass der letzte Koffer mit Fotos und Briefen seiner Familie bei einem Bombenangriff verbrannt ist? Um sich von Kummer und Wut zermürben zu lassen? Wer ist noch am Leben? Was ist aus seinen Klassenkameraden geworden?
Er klopft an Türen. Er befragt Nachbarn. Seine Eltern, Onkel und Tanten sind nicht mehr da. Keiner fragt, was mit ihnen geschehen ist. «Man zeigte kein Interesse für das Schicksal meiner Eltern oder mein eigenes. Nicht einmal die ehemaligen Freunde wollten etwas wissen, nichts.» Die Konfrontation ist unerträglich.
Von der Straße seiner Kindheit «war nur noch ein Schild übrig, auf dem der Name einer Straße stand, die nicht mehr existierte. Es war ziemlich surrealistisch!» John Ron wagt es nicht, die Tür seines Hauses aufzustoßen. Er bleibt auf dem Gehsteig. Von dort entdeckt er das Emailschild von Leon Rothkugels Notariat, das noch immer am Vorgartenzaun festgemacht ist. «Ilse», schreibt er seiner Schwester nach Israel, «es war in vielem eine schmerzliche Rückreise in die Kindheit. Unser Haus existiert noch, aber alles fremde Menschen. Ich sprach mit einer Gruppe junger Studenten, um meine meist negativen Eindrücke von der älteren deutschen Generation zu berichtigen: Mir scheinen Anzeichen vorhanden zu sein, dass diese Jugend dem Leben nüchterner und weniger arrogant entgegentritt als ihre Eltern.»
«Spiel bloß nicht den Großherzigen!», hat ihm Ilse vor der Abreise ans Herz gelegt. John Ron muss Stapel von Antragsformularen «in dreifacher Ausfertigung» ausfüllen. Der Ton in der «Anleitung zur Ausfüllung der Formulare» macht einen sprachlos: «Nicht ordnungsgemäß ausgefüllte oder schlecht lesbare Anträge werden einstweilen zurückgestellt!», «Sehen Sie von Rückfragen und Monierungen ab!», «Absichtlich oder fahrlässig abgegebene falsche Angaben (auch hinsichtlich der Höhe Ihrer Forderungen) sind nicht nur strafbar, sondern haben auch die völlige Streichung Ihres Wiedergutmachungsanspruches zur Folge!». John Ron füllt das rosa Formular «Schaden am Leben» aus: «Alles war auf typisch deutsche Art geregelt, nach Kategorien gesondert. Der Verlust der Eltern entsprach nach einem ganz genauen Tarif einer gewissen Höhe an Deutscher Mark. Schon ein bisschen peinlich, auf diese Weise den Mord zu quantifizieren. Die Gehaltshöhe meines Vaters musste bewiesen, die Liste der Wohnungseinrichtungen und der verlorenen Schmuckstücke mit Werteinschätzung entsprechend dem damaligen Einkaufswert aufgestellt werden. Sämtliche Abläufe waren von unerhörter Brutalität. Noch heute weiß ich nicht, ob ich vor Zorn lachen oder heulen soll. Das Geld, das ich bekam, habe ich in England angelegt. Aber ich war schlecht beraten worden. Das Pfund ist so stark gesunken, dass ich fast alles verloren habe. Und Ilse musste ihres in die Gemeinschaftskasse des Kibbuz legen. Es war bitter für sie.»
John Ron ist erleichtert, als er wieder das Flugzeug in die Vereinigten Staaten besteigt. 1968 kehrt er noch einmal mit Ilse nach Berlin zurück. Sie wohnen privat in Charlottenburg, in einer wilhelminischen Pension mit sehr hohen Räumen, großen Betten und dicken Federdecken. Die deutsche Jugend organisiert
Sit-ins
und
Go-ins
, geht gegen den Vietnamkrieg auf die Straße und protestiert gegen die Springer-Presse und ihre Hetzkampagnen, die «alle Oppositionellen zu Freiwild» erklären. Der Studentenführer Rudi Dutschke ist soeben auf dem Kurfürstendamm bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt worden, und der Berliner
Tagesspiegel
schreibt: «Die Stunde scheint gekommen, da das
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