Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
möchten ferner nachweisen, dass der Antragsteller zu den aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen verfolgten Personen gehört.» Er verträgt die Bettelbriefe nicht mehr, die sie zu schreiben gezwungen ist: «Mein Mann hatte einen Stoffmantel abliefern müssen, der innen ganz mit echtem Seal gefüttert war und auch einen Sealkragen hatte.» Und die Erklärung des Kürschnermeisters: «Der Minderungsabzug vom absoluten Neuwert bezieht sich auf die natürliche Veralterung des Fellmaterials.» Harry traut seinen Augen nicht, dass ihr Anwalt die Behörden noch 1955 daran erinnern muss: «Die Veräußerung von Möbeln jüdischer Eigentümer in der damaligen Zeit war kein regulärer Verkauf, und der damalige Wert war ein Vielfaches dessen, was bei einer Veräußerung und noch dazu bei einer Zwangsveräußerung erlöst wurde.»
Wie viele Male hat ein Trödler in den Wohnungen der Deportierten meiner Straße eine Versteigerung durchgeführt, bei der die Möbel zu Schleuderpreisen weggingen! Eine wahre Schnäppchenjagd für den Rest der Bevölkerung. Harry ist außer sich. Seine Eltern haben sich rupfen lassen wie Hühner, und nun müssen sie sich jahrelang krummlegen, um eine lächerliche Summe zu bekommen, weit unter dem Wert der Güter, die ihnen gestohlen wurden. Liest man diese Unterlagen, hat man den Eindruck, es handle sich um einen ganz gewöhnlichen Prozess. Nie schimmert eine moralische Verpflichtung, das Eingeständnis eines Fehlers durch. Der Staat versucht mit allen Mitteln, die finanziellen Entschädigungen herabzumindern.
Der Prozess, in dem sich Ernst Siemann und Lilli Ernsthaft in den fünfziger Jahren gegenüberstehen, ist ein Albtraum. Am 6 . Juni 1938 erwarb Ernst Siemann, seit 25 Jahren einer der treuesten Angestellten der Firma Ernsthaft, sämtliche Geschäftsanteile von Heinrich Ernsthaft, ebenso wie das fünfstöckige Gebäude in der Trebbinerstraße, in dem sich das Unternehmen befand. Die Geschäfte mehrerer jüdischer Bewohner meiner Straße wurden so zugunsten von Nicht-Juden, häufig ehemaligen Angestellten, zu einem Preis unter dem Marktwert «arisiert». Der Briefwechsel, den die Witwe und der ehemalige Angestellte nach dem Krieg führen, gibt ein Bild davon, wie erbärmlich dieser Prozess war:
«Ich komme nicht darüber hinweg, dass Sie mir in den Rücken gefallen sind.» (Ernst Siemann, 27 . Oktober 1949 )
«Ich bedauere den polemischen Ton, den Sie mir gegenüber für angebracht halten … Ich hoffe sehr, dass sich im Rahmen der gesetzlichen Regelung eine beiderseits befriedigende Lösung wird finden lassen, und bitte Sie, sich bis dahin gedulden zu wollen.» (Lilli Ernsthaft, 8 . November 1949 )
«Sollte es zu Verhandlungen vor der Wiedergutmachungskammer kommen, so werde ich bezüglich des Firmenwertes vortragen, dass die Firma Ernsthaft & Co sich in der letzten Zeit vor der Arisierung durch Betrug und Nahrungsmittelfälschung über Wasser gehalten hat. Sie glaubten natürlich, dass ich über diese Sache den Mund halten würde? Wenn Sie sich Ihren guten Ruf und den Ihres Gatten erhalten wollen, müssen Sie wissen, wie Sie zu handeln haben.» (Ernst Siemann, 29 . November 1949 )
«Dass in den Jahren nach 1933 der Umsatz zurückging und dass Brauereien sich von Herrn Ernsthaft zurückziehen mussten, weil er Jude war, ist ja gerade in Erfolg der Nazi-Methoden eingetreten, und es wäre ja Sache des Herrn Siemann gewesen, nachdem er das Geschäft arisiert hatte, seine Tüchtigkeit zu beweisen und das Geschäft wieder auf den Stand zu bringen, den es früher gehabt hat. Wenn er glaubt, dass er mit Anwürfen gegenüber dem verstorbenen Herrn Ernsthaft seine Ehefrau dazu bewegen kann, nunmehr einen Vergleich in seinem Sinne abzuschließen, so hat er sich geirrt.» Der Vergleichsvorschlag von Siemann wird abgelehnt. «Frau Ernsthaft wird nach den Ausführungen des Herrn Siemann mit diesem in keiner Weise irgendwelche geschäftlichen Transaktionen vornehmen. Er hat das Tischtuch zwischen der früheren Firma Ernsthaft & Co und sich restlos zerschnitten. Die Restitution hat zu erfolgen.» (Anwalt der Lilli Ernsthaft, 8 . März 1950 )
«Bei einer Einstellung, wie sie Frau Ernsthaft an den Tag legt, braucht man sich nicht zu wundern, dass der Antisemitismus seinerzeit eine derartige Ausbreitung gefunden hat.» (Ernst Siemann, 28 . Dezember 1951 )
«Schließlich möchte ich vermerken, dass ich unter der Nazi-Herrschaft mehr gelitten habe als Herr und Frau Ernsthaft, denn
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