Rum Diary: Roman zum Film (German Edition)
man versuchte, sich zu entspannen anstatt über den allgemeinen Stillstand nachzudenken, versammelte der Gott des Mülls eine Handvoll jener erstickter morgendlicher Hoffnungen
und ließ sie irgendwo außer Reichweite herunterbaumeln; sie hingen im Wind, machten Geräusche wie zarte Glaskugeln und erinnerten einen an etwas, das man niemals wirklich in die Hände bekommen würde. Es war eine Vorstellung, die einen verrückt machen konnte, und der einzige Ausweg bestand darin, bis zum Abend durchzuhalten und die Geister mit Rum zu bannen. Oft war es leichter, nicht zu warten, und dann begann ich das Trinken schon am Mittag. Es half nicht viel, soweit ich mich erinnere, außer daß es manchmal den Tag ein bißchen schneller vergehen ließ.
Ich wurde aus meinen Träumereien gerissen, als ich in die Calle O’Leary einbog und Salas geparkten Wagen direkt vor dem Eingang zu Al’s sah, und daneben stand der Scooter von Yeamon. Der Tag war auf einen Schlag verdorben, und eine Art Panik stieg in mir auf. Ich fuhr, ohne anzuhalten, an Al’s vorbei und schaute immer nur geradeaus, bis ich an eine Kurve kam und den Hügel hinunterbrauste. Ich fuhr eine Weile lang herum und versuchte, mir über alles klar zu werden, aber egal, zu welchen vernünftigen Schlußfolgerungen ich auch gelangte, ich fühlte mich immer noch wie eine Schlange. Nicht, daß ich mich nicht absolut im Recht fühlte – ich konnte mich nur nicht überwinden, da hochzufahren und mich Yeamon gegenüber an einen Tisch zu setzen. Je mehr ich darüber nachdachte, um so schlechter fühlte ich mich. Häng ein Schild raus, murmelte ich: »P. Kemp, Betrunkener Journalist , Saugfisch & Schlange – geöffnet von Mittag bis Sonnenuntergang, Montag geschlossen.«
Als ich im Kreis um die Plaza Colón fuhr, mußte ich hinter einem Obsthändler halten und hupte wütend. »Du stinkender kleiner Nazi!« tobte ich. »Mach, daß du aus dem Weg kommst.«
Meine Stimmung kippte, und der letzte Rest Humor war dahin. Es wurde Zeit, von der Straße wegzukommen.
Ich machte mich auf zum Condado Beach Club, wo ich mich an einen großen Glastisch setzte, neben dem ein Schirm in Rot, Blau und Gelb stand, um die Sonne abzuhalten. Die nächsten paar Stunden verbrachte ich damit, Der Nigger von der Narcissus zu lesen und mir Notizen für meine Geschichte über Aufstieg und Fall der San Juan Daily News zu machen. Ich kam mir schlau vor, aber das Vorwort von Conrad zu lesen schüchterte mich so ein, daß ich jede Hoffnung aufgab, jemals etwas anderes zu sein als ein Versager …
Heute aber nicht, dachte ich. Heute wird es anders sein. Heute werden wir einen drauf machen. Ein Picknick. Champagner. Mit Chenault an den Strand und einen drauf machen. Meine Stimmung hellte sich sofort auf. Ich rief den Kellner und bestellte zwei Spezial-Picknick-Lunchkörbe mit Hummer und Mangos.
Als ich zurück ins Apartment kam, war Chenault nicht mehr da. Es gab keine Spur von ihr, kein einziges ihrer Kleidungsstücke war mehr im Wandschrank. Es war eine unheimliche Ruhe im Apartment, eine verstörende Leere.
Dann sah ich die Nachricht in meiner Schreibmaschine – vier oder fünf Zeilen auf DAILY-NEWS-Briefpapier mit einem leuchtenden pinkfarbenen Lippenstiftkuß über meinem Namen.
Lieber Paul,
ich halte es nicht mehr aus. Mein Flugzeug geht um sechs. Du liebst mich. Wir sind Seelenverwandte. Wir werden Rum trinken und nackt tanzen. Besuch mich in New York. Ich habe ein paar Überraschungen für dich.
Love,
Chenault
Ich schaute auf die Uhr, es war Viertel nach sechs. Zu spät, um sie noch am Flughafen zu erwischen. Na gut, dachte ich. Dann besuch ich sie eben in New York.
Ich setzte mich aufs Bett und trank die Flasche Champagner allein, fühlte mich melancholisch und beschloß, schwimmen zu gehen. Ich fuhr raus nach Luisa Aldea, an einen leeren Strand.
Die Brandung war stark, und ich fühlte eine Mischung aus Angst und Eifer, als ich mich auszog und auf die Wellen zuging. Ich hechtete in eine riesige zurückrollende Welle und ließ mich aufs Meer rausziehen. Kurz darauf schoß ich dem Strand entgegen, auf der Spitze eines langen weißen Brechers, der mich mit der Wucht eines Torpedos mitriß. Dann wurde ich herumgeschleudert wie ein toter Fisch und so hart in den Sand geworfen, daß mein Rücken noch Tage später aufgescheuert war.
Ich machte weiter, solange ich noch aufstehen konnte, ritt mit der Strömung hinaus aufs Meer und wartete auf die nächste große Welle, die mich
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