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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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noch sechshundert übrig. Er ärgerte sich ein bißchen, hatte aber genügend getrunken, um den Ärger mit einigermaßen leichter Hand wegschieben zu können. Da kann man nichts machen, sagte er sich, pfutsch ist pfutsch und hin ist hin. Sechshundert Mark sind noch da, damit kann man schließlich unten in Chemnitz noch allerhand anstellen. Er stand vor dem halbblinden, zerkratzten Spiegel, der noch heute auf jeder Bahnhofstoilette zu finden ist, und dachte: Morgen, morgen gleich nach der Frühschicht fahre ich.

|248| IX. Kapitel
    Peter Loose kam am späten Nachmittag in Chemnitz an. Bereits in der Bahnhofshalle traf er auf ein bekanntes Gesicht, Zitter-Alfons, ein Homosexueller, der vom Schwarzhandel lebte und zur Deckung jeden Tag ein paar Stunden als Verkäufer im Geschäft von Hosen-Meier arbeitete; ein Männlein steht im Walde. »Lange nicht gesehen«, meinte Zitter-Alfons, »warst du drüben?« Peter kaufte ihm eine Schachtel Amis ab.
    Draußen blendete tiefe Nachmittagssonne aus den Fenstern. Es war alles wie früher. Vor dem Hotel Prätorius verkaufte ein Beinamputierter aus seinem Rollwagen Schnürsenkel, ein Straßenbahnzug kreischte in enger Kurve, und viele Leute kamen, und viele gingen. Weiter unten aber wurde ein Wartehäuschen gebaut, an der Königstraße, die hieß jetzt Straße der Nationen. Und die Bismarckstraße hieß Liebknechtstraße, die Georgstraße war eine Kurt-Fischer-Straße, das Uhlmann-Geschäft war ein Konsum, aber Paule Kirchners Zigarettenladen war noch da. War noch da mit der Ramses-Reklame im Fenster und aus gutem Grund ist Juno rund, obschon sich inzwischen andere Marken etabliert hatten, Siedlerstolz, Bahndamm letzte Ernte.
    Peter überlegte sich, ob er gleich nach Hause gehen solle oder – oder was sonst? Nach Hause, komisch. Er ging auf der gegenüberliegenden Straßenseite an der Haustür vorbei, sah heimlich hinüber, ob nicht jemand aus dem Fenster hinge, es hing aber niemand. Die Georgstraße war eine Grenze. Nach der anderen Seite zu, stadtwärts, kannte Peter eine Menge Leute. Hier aber kannte er nur wenige. Hier trafen sich andere Gruppen und Grüppchen, und manchmal gab es eine Keilerei, wenn jemand von der einen Seite auf der anderen Seite ein Mädchen hatte, Jagdfrevel. Nun also: Kurt-Fischer-Straße. |249| Kurt Fischer oder Georg, das war gehüpft wie gesprungen. Der Brühl hieß aber immer noch Brühl. Außerdem wußte man wenigstens, wer der Kerl gewesen war. Der berühmte kursächsische Minister von Brühl. Er hatte eine Pelzhändlerstraße in Leipzig, die war berühmt und er hatte Terrassen in Dresden, die waren auch berühmt. Bloß der Brühl in Chemnitz, der war nicht berühmt. Und auf diesem Brühl war Peter Loose geboren.
    Er ging zur Schule, bog in die Mühlenstraße ein, ging an der Chemnitz entlang. Die Sonne war hinter das Stadtbad getaucht, von den Schornsteinen des Elektrizitätswerkes rieselte der Ruß. Man geht die Treppe hinauf, dachte Peter, man klingelt, Tag wie geht’s da bin ich. Aber dann?
    Auf der Georgbrücke stand er, starrte übers Brückengeländer zum Wehr hinüber, konnte auch die Mündung des Kanalisationstunnels sehen, der neben dem Stadtbad herlief. Die Dämmerung war durchsichtig wie ein Kirchenfenster. Das Ruinengrundstück war immer noch da, in den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen, Lesebuch achte Klasse, Schiller. Da hatten sie im Frühjahr sechsundvierzig ihre Boxkämpfe ausgetragen, Hanse Neuss und Mäcki Selbmann und Rennfahrer-Ede. Und rechts hing das Restaurant Sachsenhof über dem Fluß, da war Peter in die Kunst des Billardspiels eingeweiht worden. Im Hinterzimmer öffnete der Buchmacher Grünewald dreimal wöchentlich seine Wettannahme, Einlauf drittes Rennen. Championjockey Jableffski auf Walhalla. Drüben auf der Wehrbrücke stand ein Mädchen und spuckte in den Fluß.
    Dem Fluß gestand Peter, warum er an der Haustür vorbeigegangen war. Er wollte dem Stiefvater nicht begegnen. Es war Sonnabend, Skattag, zwischen sieben und halb acht spätestens würde Kahlert seinen fetten Hintern flußentlang in den Krug zum grünen Kranze tragen, wo er früher als Mitglied des Luftbüchsenvereins Concordia scheibenlöchernde Triumphe gefeiert hatte. Kahlert, obendrein hieß er Erwin, |250| hatte damals im Frühjahr achtundvierzig darauf bestanden, mit ›Vater‹ angeredet zu werden. Peter war bei ›Herr Kahlert‹ geblieben, hatte manchmal auch das ›Herr‹ weggelassen. Und an jenem Abend, als Erwin seinen erheirateten

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