Rummelplatz
einen nicht wirklich. Er fragte sich, was ihn das alles, alles anging. Er lebt ganz gut hier, in diesem befremdlichen Dorf, in dieser unterirdischen Fabrik, er fühlt sich besser, als er sich in den zwei, drei unsteten Jahren vorher gefühlt hat. Aber er gesteht sich das nicht ein, |243| kann es nicht, die Tage werden länger, und die Straßen, die irgendwohin führen, liegen hell und warm im Licht. In jedem Frühjahr kam die Unruhe, sie wird in jedem Frühjahr wiederkommen. Da saßen sie an den Tischen, schütteten Bier in sich hinein, lebten von Bockwurst und Gerüchten, von Skat und immer den gleichen Witzen, im Dreieck zwischen Biertisch, Barackenmatratze und Bohrhammer, tagaus-tagein. War man dazu auf der Welt? Zwanzigjährige saßen da, Dreißigjährige und Fünfzigjährige, alle mit den gleichen Flüchen, schlugen die Zeit zwischen den Schichten tot, lebten. Lebten? Was unterschied die Zwanzigjährigen von den Fünfzigjährigen? Glänzende Augen, wenn zwei sich prügeln; ein Achselzucken, wenn einer dran glauben muß; Lärm, Langeweile, lieblos-leblos, Meister der Empfängnisverhütung beiderlei Geschlechts, ein ganzes Leben auf demselben Gleise, und immer im Kreis herum, immer im Kreis, manchmal schnell, manchmal langsam, manchmal rotes Licht, aber nie eine Weiche, nie eine andere Strecke, manchmal Trittbrett, manchmal Stehplatz, vielleicht einmal erster Klasse, aber nie in eine andere Richtung, nie.
Es kam aber einer den Gang entlang, zwischen den Tischen, einer mit lang herabhängenden Armen, Pusteln im Gesicht, allerlei Knötchen, kam am Steckbrief vorbei in knieweichem Schlenkerschritt, schulterwiegend, den Seeleuten abgeguckt, schlingerte heran und legte an der Theke bei, dicht vor Peter. Peter erkannte ihn nicht sofort. Erst als der andere den Mund aufmachte. »Bis’ du nicht der Loose?« Der Mann sprach nicht, er bullerte die Worte heraus wie Klöße: Püüs–duu–nüüüsch– däää–Looosäää. Chemnitz. Schloßteichbande. Der Mann hieß Hecht.
Der Mann, der Hecht hieß, hatte damals ein Ding gedreht, nicht von schlechten Eltern; allabendlich, wenn sich die Schloßteichanlagen mit jungen Leuten füllten und die Bürger einen Bogen machten, kam irgendwo die Geschichte auf. Sie kam oft auf, denn es waren um die Hundert, die da jeden |244| Abend zusammentrafen; aus dem Nordviertel und vom Schloß, Sonnenviertel und Kaßberg, Furth, Gablenz, Ostplatz, Südbahnhof, Stadtbad, Zweiniger, August, Gasthof Neustadt, Bochmanns Ballhaus. Die Geschichte vom Manne Hecht, der Fahrradspeichen, mit der Kneifzange säuberlich auf Halbzentimeterlänge geschnitten, als Feuersteine verkauft hatte, fünf Mark das Stück, vier Monate lang. Die Geschichte vom reibungslosen Umsatz einiger zweihundertfünfzig Stückchen einwandfreien Stahldrahtes, unter den Augen der Polizei, auf dem Hauptbahnhof und in der »Libelle«, im Pissoir am Postplatz und im Stadtbad. Die Geschichte von den vier Drahtstückchen, die an einem schummerigen Seitentisch der Tanzbar »Libelle«, bei bester Laune, der Herr Polizeipräsident persönlich gekauft hatte, denn auch ein Polizeimann bedarf in solch düsteren Zeiten der erhellenden Wirkung des Zündsteins.
Und während Peter noch der Erinnerung nachhing, haute ihm der Hecht die Hand auf die Schulter und sagte: »Wir brauchen einen dritten Mann, Bierlachs. Machste mit?«
Ehe er sich’s versah, saß Peter bereits am Tisch, und Hecht mischte die Karten. Die erste Runde spielten sie um ein Bier und einen Doppelten. Peter bekam ein Rotspiel ohne Zweien, gab Ré auf ein Kontra, gewann hoch. Dann gab ihm der dritte ihrer Runde, ein Grubenschlosser namens Richard, einen bombensicheren Grand, in Vorhand, Kreuzbube, Pikbube, sechs Blatt Karo. Der Grubenschlosser Richard bekam in der ersten Runde kein einziges Spiel, was aber seiner aufgeräumten Laune keinen Abbruch tat. Schräg hinter Richard saß ein sowjetischer Soldat, trank Limonade, die heimlich zur Hälfte mit Wodka aufgefüllt war, denn den Soldaten war der Alkoholgenuß in deutschen Gaststätten verboten, sah dabei dem Schlosser über die Schulter. Er kannte das Spiel nicht, aber er sagte fortwährend »nix gut, nix gut« zu Richard, der ihm hin und wieder in komischer Verzweiflung sein Blatt vor die Nase hielt. Die beiden schienen sich zu kennen. Der Soldat |245| aber dachte bei sich, er wolle doch gleich ein Pud Kochsalz aufessen, wenn die zwei Jünglinge den Richard nicht ganz gehörig ausbeutelten.
Richard verlor auch die zweite
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