Rummelplatz
nichts, nur die leise Operettenmusik war da, die Mutter starrte ihn noch immer an wie eine Erscheinung.
Sie mußten sich doch aber etwas zu sagen haben. Ich hätte mir etwas zurechtlegen sollen, dachte er. Ganz egal, was.
Er zog den Mantel aus, und dabei sah er, daß auch das Foto noch auf der Anrichte stand. Es war das Hochzeitsbild der Eltern, mattbraun getönt, wie es damals modern gewesen war, der Vater im schwarzen Anzug, die Mutter im Brautkleid und sehr feierlich. Es war also noch da. Kahlert hatte immer darauf bestanden, daß es entfernt würde; es war aber das einzige, worin die Mutter damals nicht nachgegeben hatte. Er hat es also nicht geschafft, dachte Peter. Auf einmal fühlte er sich ein bißchen zu Hause.
Aber das hielt nicht vor. Es fiel ihm nun ein, wie oft er an zu Hause gedacht hatte als an etwas Verlorenes, wie deutlich ihm jeder Gegenstand in dieser Wohnung gewesen war, wie klar all die Bilder; es fiel ihm ein, daß er sich nach dem Gesicht der Mutter gesehnt hatte, nach dem vertrauten Küchengeruch |253| und nach den Kratzern auf den Möbeln – nun, da er zu Hause war, war alles anders. Ein Gefühl von Fremdheit beschlich ihn; er hatte sich zwei Jahre lang bestohlen gefühlt und begriff nun, daß er gar nicht bestohlen war. Nicht Kahlert hatte ihn aus seiner Kindheit vertrieben und aus seinem Zuhause, die ihm beide freundlich erschienen waren in der Erinnerung, nicht Kahlert hatte seine Kinderträume entzaubert, sondern etwas anderes, Stärkeres. Und er begriff nun auch, daß er nicht aus Angst vor Kahlert am Haus vorbeigegangen war, auf der Brücke gewartet hatte; kein Einzelnes hatte er gefürchtet, sondern alles: die Begegnung mit den Nachbarsgesichtern, das Wiedersehen mit der Mutter und selbst mit der Farbe der Gegenstände und der Atmosphäre der Dinge, die nicht wahrhaben würden, daß etwas geschehen war, und daß man die Zeit nicht einfach zurückdrehen kann.
Die Mutter brachte ihm Tee. Manchmal sah sie verstohlen zur Tür des kleinen Eckzimmers hinüber, in dem er früher geschlafen hatte. Er sah es, aber er dachte sich nichts dabei. Er begann zu erzählen, in stockenden Sätzen und mit langen Pausen, von seiner Arbeit, von den Gegenden, in denen er gewesen war, von Nebensächlichkeiten. Sie spürte, daß die Kluft zwischen ihnen größer war als jemals zuvor. Sie hatte Angst gehabt vor dem Tag, da er zurückkam; sie hatte auch Angst vor dem, was sie ihm sagen mußte. Sie begriff nicht, daß dies nur ein Besuch war, ein Besuch in der Vergangenheit. Kahlert sei nun nicht mehr Fahrdienstleiter bei der Spedition, sagte sie langsam. Er habe vergessen, im Fragebogen anzugeben, daß er bei der Leibstandarte gewesen sei, und das hätten einige Leute an die große Glocke gehängt. Nun müsse er als Hilfsarbeiter bei einer Abbruchfirma arbeiten, bei jedem Wetter draußen. Und mit jedem Wort ging sie ein Stück weiter fort.
»Vorige Woche hat Traudel geschrieben«, sagte sie dann. »Willst du es lesen?«
|254| Er sagte ja, und ihm war, als freue er sich auf den Brief. Als er ihn aber in der Hand hielt, wußte er, daß auch das nicht echt war. Er las, daß Landser eine kleine Nähmaschinenreparatur eröffnet hatte, mit Kundendienst und Verkaufsvertretung, er hoffe, in ein, zwei Jahren einen Gehilfen einstellen zu können. Er erfuhr, daß die Schwester aus der Hinterhauswohnung in eine Vorderhauswohnung umgezogen war und daß das eine Menge Geld gekostet habe, er las, daß man jeden Pfennig dreimal umdrehen müsse, wenn man gegen die alteingesessenen Geschäfte hochkommen wolle, und daß man deshalb nicht mehr so oft etwas schicken könne, er las das alles, aber es berührte ihn nicht. Die Mutter beobachtete ihn beim Lesen, und als er einmal vom Briefbogen aufsah, sagte sie: »Sie hat Glück gehabt, nicht?« Er hob die Schultern, und auch als er nach einer Weile sagte: »Da geht’s euch also einigermaßen« – auch da verstand sie ihn nicht.
Aber mit der Zeit bemerkte er ihre Unruhe. Sie hat Angst, daß Kahlert aus der Kneipe kommt, dachte er. Da braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Ich werde ihm guten Tag sagen, und wenn er das nicht verträgt, dann verschwinde ich eben wieder. Meinetwegen braucht sie sich wirklich nicht den Kopf zu zerbrechen. Er lächelte ihr zu, und nach einer Weile lächelte auch sie ein wenig, da sagte er: »Ich bleibe bloß bis morgen. Und wenn’s nicht geht, dann geht’s eben nicht.«
»Ja«, sagte sie. »Es ist nur …«
Und sie stand auf, und sie
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