Rummelplatz
sagen. Aber anders ist er geworden. Und man muß sich wohl darauf einstellen, daß das immer so weitergeht. Das Wichtigste ist immer, was noch zu tun ist. Ja, dachte er, was getan ist, ist getan, und es ist gut getan. Aber nun muß das nächste getan werden, besser als gut, darum geht es. Er fühlte die Kraft in sich, die nötig war.
»Trotzdem«, sagte Papst. »Ich kann mir nicht helfen, es ist doch ein merkwürdiger Zufall.« Er hatte die Brille abgenommen, putzte sie an seinem Jackenärmel; ohne die Brille war sein Gesicht seltsam nackt und konturlos. »Ich meine, wenn die Leute in der Zeitung lesen, daß die Genossin Ruth Fischer in Bermsthal dies und jenes durchsetzt, dann wird sich doch mancher sagen: Na, die Kommunisten hatten schon mal |290| eine Ruth Fischer, die sollen den Mund mal lieber nicht so weit aufreißen. Ich meine, das ist gar nicht so einfach für unsere Propaganda. Schließlich, irgend etwas denkt man sich doch dabei. Wie seid ihr denn ausgerechnet auf den Namen gekommen, damals?«
Eine ganze Weile begriff Hermann Fischer nichts. Es war alles zu weit weg, als daß er etwas hätte sehen können. Aber wenigstens die Zeit spürte er, die sich auftat. Ruth … Eigentlich hatten sie gedacht, Anna und er, daß es ein Junge werden müßte. Der Junge sollte Hans heißen, darüber waren sie sich einig. Und sie hatten so fest an den Jungen geglaubt, daß sie an einen Mädchennamen gar nicht gedacht hatten. Dann, am Nachmittag, als er in die Klinik kam, war Ruth dagewesen. Er war eingelassen worden außerhalb der Besuchszeit, Anna war sehr blaß, aber still und heiter wie immer, und sie hatte gesagt: Der Hans ist nun ein Mädchen. Was sagst du nun? Aber ungeduldig ist sie wie ein Junge. Dann war die Oberschwester hereingekommen, die trug eine Hakenkreuzbrosche auf ihrem Kittel; es war das Jahr, bevor die Nazis an die Macht kamen. Solange sie im Zimmer war, hatten sie beide geschwiegen. Später aber hatte Anna ein schmales Heft von ihrem Nachttisch genommen, darin die deutschen Vornamen verzeichnet waren, die Oberschwester hatte es ihr am Morgen gebracht. Viele Namen waren unterstrichen, Brunhilde, Isolde, Sigrid. Einige waren durchgestrichen. Und Anna hatte auf einen der durchgestrichenen Namen gezeigt und gesagt: Ich habe sie schon eintragen lassen. Ruth …
»Naja«, sagte Papst, »ich will ja nichts sagen. Aber du weißt ja, sie war schließlich nicht irgendwer, Sektierertum, Spaltertätigkeit, Parteiausschluß … Dummerweise war es gerade die Zeit, in der dein Mädel zur Welt kam. Ich meine, es würde mich nicht wundern, wenn jemand auf den Gedanken käme, daß da was dahintersteckt.«
»Quatsch«, sagte Hermann Fischer. Es war ihm wirklich zu dumm. Natürlich wußte er, daß es diese Ruth Fischer, Führerin |291| der sogenannten linken Kommunisten, vor vielen Jahren bereits aus der KPD ausgeschlossen, natürlich wußte er, daß es sie gegeben hatte und vielleicht noch irgendwo gab. Aber er hatte nie einen Gedanken daran verschwendet. Das hatte mit ihm nichts zu tun, und niemals bisher hatte er sein Mädel damit in Verbindung gebracht, auch kein anderer hatte das getan. Unsinn, dachte er, Einfälle hat der. Was soll man da erst sagen, wenn einer Adolf heißt. Oder – und er lächelte plötzlich in Balthasar Papsts Gesicht –, oder wenn ein Kreissekretär, sagen wir mal, Papst heißt? Nein, dachte er, das ist gar zu lächerlich. So beschränkt kann doch niemand sein. Und er tat den Gedanken ab als erledigt.
Peter Loose aber sagte plötzlich: »Das ist komisch.« Er sah den kleinen Heckert im Abteil sitzen, den alten Mann, der seine Weizenkörner kaute, er sah Christian Kleinschmidt, mit dem Gesicht an der Scheibe, und dahinter sah er das Mädchen, den Kopf an die Schulter des jungen Mannes gelehnt, er sah die Leute im Nachbarabteil, und am Gangende wartete einer, daß die Toilette frei würde, und alle nickten sie im gleichen Rhythmus mit dem Kopf, alle schaukelten nach links, wenn der Zug nach rechts schlingerte, und nach hinten, wenn er bremste. »Das ist komisch«, sagte er. »Wir sitzen alle im gleichen Zug und machen alle die gleiche Bewegung mit und fahren alle in die gleiche Richtung. Und doch will jeder woanders hin und steigt woanders aus. Und jeder ist woanders hergekommen.«
»Hm?« sagte Christian Kleinschmidt. »Was soll daran komisch sein?«
Und sie fuhren nun kurz vor Leipzig. Je länger man darüber nachdenkt, dachte Papst, um so sicherer scheint es, daß tatsächlich etwas
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