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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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ein Haltesignal zu überfahren, und irgendeinem anderen fällt das auch gerade ein, dann prasseln wir aufeinander, und dann brechen sich nicht bloß die Lokführer das Genick, sondern wir alle mit. Mein lieber Mann, dachte er, da soll bloß einer sagen, eine Lokomotive, das ist, wo hinten Kohlen reinkommen, und vorne kommt Qualm raus, und unten drehen sich die Räder. Da ist ganz schön was los, mit so einer Eisenbahn. Da soll sich bloß keiner einbilden, er wüßte das schon alles.
    Ja, dachte Christian Kleinschmidt, das ist die Misere. Voriges Jahr, da hab ich das alles noch gewußt. Aber jetzt, jetzt kriege ich den Beweis nicht mehr zusammen. Und wenn das noch eine Weile dauert, bevor ich zum Studium komme, dann habe ich reineweg alles wieder vergessen. Da kann ich gerade so gut ganz von vorn anfangen. Alles noch mal, vom Urschleim aufwärts. Ja, dachte er, da schwören sie nun drauf, wie wichtig es ist, daß man erst mal den Buckel krumm macht, an der Basis, bevor man immatrikuliert wird. Aber daran haben sie nicht gedacht. Und überhaupt, so weit kann einer allein gar nicht zählen, ohne Rechenmaschine, woran alles die nicht gedacht haben.
    Ja, dachte er, da hätte der alte Mahlmann noch einen zusätzlichen Beweis finden können. Es ist weiß Gott alles relativ. Und der Zug fuhr ein in die zerstörte Leipziger Bahnhofshalle, unter das Hallendach, darin keine Fenster mehr waren, und der Himmel hing herein, und Christian Kleinschmidt dachte: Weiß Gott!
     
    In diesem staubtrockenen Juli erlebte Ruth Fischer ihre erste Niederlage. Vier Monate arbeitete sie nun als zweiter |295| Gehilfe, der Sommer dörrte das Land, vierzig Grad standen mittags in den Maschinenhallen und dreißig meldete die Nachtschicht, unsäglich die Verbissenheit, unsäglich das Aufatmen nach jedem bestandenen Tag. Gereiztheit und Überspannung lagen in der Luft, keiner entging ihnen. Die Atmosphäre war geladen bis zu jener Phase äußerster Sättigung, da die geringste Reibung genügt, plötzlich herniederbrechen zu lassen auf einen unvermuteten Punkt, was sich in Wochen gestaut und geballt hat von überall.
    Für Ruth war dieser Sommer entscheidend, eine unwiederholbare Chance, sie wußte es. Bestand sie als zweiter Gehilfe, so war eine Bresche geschlagen in die Gewöhnung. Ein Tabu war niederzureißen, ein Platz zu erobern, der immer den Männern gehört hatte – war erst einmal ein Anfang gemacht, dann waren die weiteren Festungen leichter einnehmbar: der erste Gehilfe, der Maschinenführer. Soweit es an ihr lag, wußte Ruth, daß sie diesen Platz auszufüllen vermochte wie jeder Mann. Was aber, wenn sich die Schwierigkeiten von außen zuspitzten ins Unkontrollierbare? Würde man nicht beim leisesten Fehler nur ihr Versagen sehen, nicht die Umstände, nicht die Summe der Ursachen? Wer wird stärker sein bei dieser Vorgabe: der einzelne oder die Umwelt, die Prüfung oder der Geprüfte?
    Als Ruth die Halle betrat, etwas später als sonst, starrten ihr die anderen von der Bank vorm Männerumkleideraum her schon entgegen: gespannt, neugierig, manche unverhohlen hämisch. Sie spürte sofort, daß etwas geschehen war. Dörner, ihr Maschinenführer, weihte sie ein: »Hahner hat sich krank gemeldet. Du mußt heute Ersten machen.« Er sagte es wie einen Befehl.
    Ruth sprach mit Warmbier, dem dritten Gehilfen. Er würde die Arbeit des zweiten Gehilfen übernehmen, Ruths Arbeit, einen dritten hatte der Werkführer vom Holzplatz abgezogen. Der dritte war neu im Werk, hatte noch nie eine Papiermaschine aus der Nähe gesehen.
    |296| Beim ersten Rollenwechsel kam der Maschinenführer der Nachbarmaschine nach vorn, Sosonaja. Er stellte sich hinter den Rollenbock, kniff spöttisch ein Auge zu. Aber der Wechsel gelang. Ruth führte die Papierbahn auf, Warmbier hob mit dem Flaschenzug die Rolle aus der Maschine. Enttäuscht schlurfte Sosonaja an seinen Maschinenführertisch zurück.
    Ruth nahm Probebogen, brachte sie zu Dörner, regulierte dann die Heizung. Das Papier lief einwandfrei. Sie fuhren ein achtziggrammiges Offsetpapier. Der Produktionsleiter kam, nickte ihr zu, beobachtete den nächsten Wechsel. Ruth wurde nervös. Der Produktionsleiter blätterte im Schichtbuch, schlenkerte mit seinem Spazierstock, sah aber immer herüber. Als Ruth aufgeführt hatte, riß die Papierbahn ab. Jemand mußte einschneiden, es war aber niemand da. Warmbier konnte nicht vom Antrieb weg, und der dritte Gehilfe steckte mit den fertigen Rollen im Aufzug. Das Papier lief

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