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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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dahinterstecken muß. Warum regt er sich so auf, wenn nichts dabei ist?
    Und sie hatten das Braunkohlenland hinter sich gelassen, sie fuhren über Wiesen und tauchten in ein Waldstück, und Nickel dachte: Eigentlich könnte ich hinter Leipzig einfach |292| mal durch den Zug gehen. Ich kann doch zufällig mal an ihrem Abteil vorbeikommen, warum denn nicht? Mit der Zeit wird es halt langweilig, wenn man so allein sitzt. Und außerdem, es ist doch nichts dabei. Und es kamen die ersten Siedlungshäuser und die ersten Gärten am Stadtrand, und den Himmel, der leer gewesen war, schnitt eine Hochspannungsleitung ziemlich oben. Auch Vögel waren plötzlich da, Spatzen und Meisen und die schwarzen Kreuze der Schwalben.
    Die Schwalben sah Hermann Fischer immer so. Und immer, wenn er welche sah, dachte er an den Ettersberg und an den alten Prokoffski, der hatte sie zuerst so gesehen. Wenn es stimmt, hatte der alte Prokoffski gesagt, daß die Seelen in den Himmel kommen, dann sind die Schwalben vielleicht unsere Grabkreuze, die aus den Schornsteinen aufsteigen und über den Himmel wandern und über die Menschen hin und über die Welt, damit wir nicht vergessen werden. Und der Rauch hatte niedrig über dem Steinbruch gehangen und vollkommen still, an einem Tag, der grau war, aber dicht vor dem Aufklaren. Einem Tag wie diesem.
    Wahrhaftig, dachte Christian Kleinschmidt, was soll daran komisch sein? Der Physikpauker Mahlmann fiel ihm ein, 12b, der hatte einmal am Beispiel eines fahrenden Zuges die Relativitätstheorie erklärt. In einem gradlinig und gleichmäßig schnell fahrenden Zug verhalten sich alle Körper wie in einem stillstehenden Zug. Verändert der Zug aber Richtung oder Geschwindigkeit, so verändern die Körper ihr Verhalten. Nein, dachte Christian, das war es nicht. Das ist zwar einleuchtend, aber es hat mit Einstein nichts zu tun. Bei extrem hoher Geschwindigkeit nämlich ist der Zug von draußen gesehen kürzer als von drinnen. Draußen gilt eine andere Zeit als im Zug, und wie jeder Körper verkürzt er sich in Richtung seiner Bewegung, und außerdem wächst mit steigender Geschwindigkeit auch seine Masse und ist absolut, wenn sie die Lichtgeschwindigkeit erreicht. Aber wie hatte |293| Mahlmann das bewiesen? Die Bewegung ist genau so relativ wie Zeit und Raum, soviel war klar. Aber wo, zum Teufel, wo war der Beweis?
    Und Peter Loose dachte: Das Mädchen dort, an der Schulter des jungen Mannes, das sitzt da und schläft – und bewegt sich trotzdem. Und wir sind an den Braunkohlengruben vorbeigefahren, die habe ich gesehen, und sie hat nichts gesehen, aber vorbeigefahren ist sie genauso wie ich. Und wir haben nichts miteinander zu tun, aber wir machen bei jedem Schienenstoß die gleiche Bewegung, und wir sind um die gleiche Zeit irgendwo eingestiegen und steigen vermutlich um die gleiche Zeit in Berlin aus, aber wir haben uns nie vorher gesehen und werden uns wahrscheinlich auch nachher nie wiedersehen. Ja, dachte er, wir tun nichts und kommen doch vorwärts. Aber das stimmt nicht ganz, denn wir geben Geld dafür, und für das Geld haben wir gearbeitet. Und es ist jemand da, der hier für uns arbeitet, der Lokführer, der Heizer, und wir fahren so schnell, wie sie Dampf machen. Freilich können sie auch wieder nicht, wie sie wollen, denn sie müssen sich an den Fahrplan halten, und können auch nicht woanders hinfahren, denn da sind die Schienen und die Weichensteller. Und wir können nicht schneller fahren, als die Lokomotive kann, und die Gleisbauer hätten ihr Gleis nicht woanders hinlegen können, denn es waren Pläne da, und die Ingenieure haben die Pläne gemacht, dem günstigsten Weg entsprechend. So hängt eins vom anderen ab, und keins kann für sich allein. So was, dachte er, und da sagte der Kleinschmidt noch, das wäre nicht komisch. Jeder denkt, er macht, was er will, und dabei kann er von vornherein gar nicht, wie er will, bloß, das merkt schon keiner mehr. Wenn das nicht komisch ist, da freß ich aber einen Hut, wenn es das nicht ist. Ja, dachte er, das geht ja noch weiter. Denn wenn keine Eisenbahn da wäre, oder keine Kohle, oder die Dampfmaschine nicht erfunden, dann könnten wir ja überhaupt nicht fahren, dann würden wir immer schön zu Fuß latschen, oder |294| mit dem Pferd, wer eins hat. Und wenn der Lokführer sagt: Ich will nicht, dann sind wir alle geplatzt, dann haben wir zwar die Lok, aber wir können nicht damit umgehen. Oder wenn es dem Kerl vielleicht einfallen sollte, einfach mal

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