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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Alte müßte es eigentlich wissen. Während er gegen die Nazis seinen Kopf riskierte, lief die Partei der Schleimer geschlossen ins tausendjährige Reich über. Ganz gleich, wem sie vorher das Wort geredet hatten.
    In einem aber hatte er recht. Man gab wirklich eine miese Figur ab im seichten Wasser. Man mußte etwas tun. Und Christian war wirklich bereit, etwas zu tun. Nur – was?
    Bei den Pimpfen war ihm eingebleut worden: Du bist nichts, dein Volk ist alles – so schön heroisch, so schön pathetisch, so schön demagogisch. Kein Wunder, wenn man in der Umkehrung dachte, großes Ich, kleines ihr. Es hätte einer kommen müssen vielleicht mit dem Satz: Du bist viel, dein Land ist mehr. Aber es kam keiner. Die Wahrheiten lagen auf der Straße, gewiß, aber man mußte einen Blick dafür haben.
    |318| Hermann Fischer schien indessen sein Vorhaben aufgegeben zu haben. Christian wartete jeden Tag auf einen neuen Vorstoß, aber Fischer beschränkte sich, wenn er ab und an mit ihm sprach, auf Anweisungen, die ausschließlich die Arbeit betrafen. Über die Jugendbrigade fiel kein Wort mehr. Seltsamerweise war Christian enttäuscht, er fühlte sich fallengelassen. Es ging ihm wie dem Bauernburschen im Märchen, der in die Welt ziehen will, weil seines Vaters Hof ihm zu klein erscheint, dann aber unschlüssig im Hoftor stehenbleibt, da der Vater ihn nicht zurückzuhalten versucht. Und es ging ihm andererseits wie dem frommen Pilger, der bei seiner Wanderschaft durch die Lande erkennt, wie schlecht die Welt eingerichtet ist, und deshalb insgeheim mit seinem Herrn zu rechten beginnt; sich aber nicht entschließen kann, gemeinsam mit gleichgesinnten Andersgläubigen an dem Flusse, da sie sich getroffen, eine feste Stadt zu erbauen, in der gerecht und vernünftig gelebt werden soll. Er baute auf die Vernunft, aber er wußte nicht recht, worauf die Vernunft bauen sollte …
    Christian erhielt kurz darauf einen Brief seines Vaters. Der Professor hatte einen Unfall gehabt, er schrieb aus dem Krankenhaus. Überall in den zerstörten Städten waren quer durch die Ruinengrundstücke Trampelpfade entstanden. Die Leute hatten es wieder eilig, man kürzte die Wege ab, wo es nur ging. Der Professor war im Regen auf einem dieser Pfade ausgeglitten und hatte sich das linke Fußgelenk gebrochen.
    Übers Wochenende fuhr Christian nach Leipzig. Er hatte drei Flaschen Talonschnaps gegen eine halbe Flasche sowjetischen Kognak eingetauscht, grusinischen Dreistern. Im Krankenhaus würde ihn der Vater wahrscheinlich nicht trinken dürfen, aber das machte nichts. Loose hatte in einem Bauerngarten herrliche Äpfel entdeckt, gab ihm die Hälfte davon mit. In Aue hatte Christian noch Zeit, eine Buchhandlung zu durchstöbern.
    |319| Während der Fahrt dann machte Christian eine seltsame Entdeckung: zum ersten Mal fuhr ihm der Zug zu schnell. Er wünschte, der Besuch läge schon hinter ihm. Er hatte eine manische Scheu vor Krankenbesuchen, empfand geradezu Widerwillen. Man saß neben dem Bett, blasse Gesichter überall, weiße Kittel, unnatürliche Stille, Karbolgeruch und Fieberkurven, – und der erdrückende Anblick fremder Krankheit. Man saß neben dem Bett und wußte nichts zu sagen. Die Leute redeten über Krankheiten, über die Ärzte und über das Essen, als sei das ganz natürlich. Alles war unnormal, aber jeder versuchte krampfhaft, normal zu tun.
    Christian versuchte zu lesen. Draußen zogen abgeerntete Felder vorbei, Stoppelbruch, hier und da ein frischerdiger Streifen Zwischenfrucht. Er versuchte zu lesen, aber er mußte die Seite immer wieder von vorn beginnen, die Zeilen lösten sich auf vor seinen Augen. Zu allem Überfluß erzählten sich die Frauen, die in Zwickau zugestiegen waren, endlose Familiengeschichten. Irgend jemand war gestorben: Fünfundvierzig, das ist doch kein Alter. Und mit sieben Kindern. Der Mensch hat überhaupt nichts von dem bißchen Leben …
    Als sie in die große Bahnhofshalle einfuhren, wußte Christian nicht mehr, wo und wann er eingeschlafen war. Jener seltsame Schwebezustand zwischen Schlaf und Gegenwart, Traum und Erinnerung. Aus dem Gemurmel im Abteil war der Lärm der Bohrhämmer aufgedämmert, die Geräusche vor Ort, der strenge Geruch der Arbeit. Die Prozenttafel im Schachthof: Jugendbrigade Kleinschmidt, 150 Prozent. Er hatte mit den anderen in der Strecke gestanden und die Arbeit eingeteilt. War mit Spieß und Radieschen am See gewesen, und Spieß hatte gesagt: Christian ist jetzt unser Brigadier. Wir

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