Rummelplatz
gehen auf Rekord. Drushwili hatte die Kisten gezählt und gesagt: Nu charascho! Christian hatte die Lichterschnur an der Firste gesehen, hatte vor der Scheibe gestanden und ein neues Bohrschema entworfen, über das sogar der alte Fischer gestaunt hatte. Er hatte am Zahltag vor |320| dem Lohnbüro gestanden, und die Brigade hatte die Tüten voller Geld geschwenkt und hipp, hipp, hurra geschrien … Als er vollends wach wurde, war das Abteil bereits leer. Der Zug mußte schon eine ganze Weile stehen.
Christian stellte sich auf dem Bahnhofsvorplatz nach einem Taxi an. Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, daß Messe war, Herbstmesse. Überall Reklametafeln, Fahnen, das MM über die Straßen gespannt, die Leuchtschrift-Nachrichten der »Leipziger Volkszeitung« am hellen Tage. Die Messe war für Christian immer ein Ereignis gewesen. Jetzt, nach den eintönigen Wochen im Gebirge, stürzte die Atmosphäre der Stadt in ihren Farben über ihm zusammen wie eine Woge, eine prickelnde Erregung hob ihn auf, trug ihn davon. Verkehrspolizisten, endlose Autokolonnen, Wagentypen aus aller Herren Länder, das Gewirr der Sprachen und der Gesichter, überall Menschen, Menschen, Menschen. Auf vier Geleisen nebeneinander fuhren die Straßenbahnen. Eine Stimme aus dem Lautsprecher: Linie 15 nach Liebertwolkwitz Gleis 4; Einsatzwagen der Linie 21 zum Südfriedhof über Messegelände; Linie 28 nach Markkleeberg … Vor dem Park-Hotel eine riesige Werbefläche: Leipziger Messe – das Tor zwischen Ost und West. An den Masten die Fahnen der ausstellenden Länder, der Union Jack Großbritanniens, die Trikolore, das weiße Kreuz der Schweiz, das blaue Kreuz Norwegens, das gelbe Kreuz Schwedens, Hammer und Sichel und die rote Sonne Japans, die gelben Sterne Chinas und der jugoslawische Stern, das Grün-Weiß-Rot Italiens und das Rot-Weiß-Grün Ungarns. Hupende Autos, ein Kleinomnibus des Flughafens, dunkelhäutige Frauen, grellrote Lippen, Männer mit dem weißen indischen Käppi, Afrikaner, Südamerikaner, der Geruch amerikanischer Zigaretten, Zeitungsverkäufer, ein Eismann, ein Gepäckträger, auf und ab wogende Gesichter und ein tausendstimmiges Summen, das über die Stadt gestülpt schien wie eine Glocke …
»Wohin?« fragte der Taxifahrer.
|321| Elisabeth-Krankenhaus.
Sie fuhren nach dem Süden. Christian war den Verkehr nicht mehr gewöhnt, er starrte durch die Scheiben, ließ sich nichts entgehen. Er unterschied die Autotypen, befragte die Gesichter. Das Leben in den Straßen gab einen seltsamen Kontrast zu den Trümmerlücken in den Häuserreihen. In der zerstörten Innenstadt waren quer über ganze Straßenzüge hinweg die wenigen erhalten gebliebenen großen Gebäude zu sehen, hier und da verschämtes Grün. Die Untergeschosse einiger ausgebrannter Häuser waren notdürftig wieder ausgebaut worden. Aber überall Geschäftigkeit, Verkehr, Menschen, Farben, Reklame, Bewegung. An der Beethovenstraße wurde es stiller, sie fuhren eine Umleitung.
Das Krankenhaus war eine Ernüchterung. Christian mußte vor dem Portal warten, die Besuchszeit begann erst in zehn Minuten. Mit ihm warteten dreißig, vierzig andere. Mütter, Ehemänner, Söhne, Bräute. Verwandte und Bekannte. Darunter jene merkwürdigen Typen, die man in den Krankenhäusern und bei öffentlichen Gerichtsverhandlungen, bei Verkehrsunfällen, Begräbnissen, vor Kirchen und Standesämtern immer wieder trifft. Leise Stimmen, Gedämpftheit, Taschen und Netze mit Obst, Kuchen, Einkochgläsern, Blumen. Richtig, die Blumen hatte man vergessen. Aber nun wurde das Tor geöffnet. Kleinschmidt – zweite Etage. Die Schritte hallten in den Korridoren, weißgestrichene Türen rechts und links, Schwestern und Ärzte in weißen Kitteln, gehfähige Patienten in gefängnismäßiger Krankenhauskluft, Karbolgeruch, Äther. Nichts ist kläglicher als der Anblick eines Blumenstraußes inmitten von Mauern, in denen der Desinfektionsgeruch nistet.
Es war ein Dreibettzimmer. Christian erkannte den Vater nicht sofort. Er sah ein Bein in einem Streckverband, weiße Metallbetten, ein stoppliges Gesicht. Das war er nicht. Daneben ein junger Mann mit wirrem schwarzem Haar. Ein Kaffeetopf auf einem Nachtschränkchen, ein Wasserhahn tropfte, Besucher waren nicht da.
|322| Professor Kleinschmidt lag am Fenster. Er hatte seinen Sohn sofort gesehen, machte jetzt eine Bewegung mit der freien Hand, die andere hielt ein Buch. Christian murmelte leise »Guten Tag«, trat ein, schloß die Tür. Das Zimmer war
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