Rummelplatz
Gesicht, breite Hände, mager, derb. Ein alter Handwerksmeister, sollte man meinen. Hatte es vor dem Weltkrieg schon Kommunisten gegeben? Die KPD war 1919 gegründet worden, hatte man wenigstens so gelernt. Und der Spartakusbund war auch erst während des Krieges entstanden. Aber da war diese Sache mit Liebknecht, Ablehnung der Kriegskredite. Diese Zeit mußte das gewesen sein. Wenn man sich einen Reichstagsabgeordneten vorstellen will, dann taucht sofort das Bild eines gebärdenreichen Redners auf, Frack, weiße Hemdbrust, große Geste über das Pult hinweg, theatralische Stimme und altmodische Bartkoteletten. Oder aber Daumiers Plastiken vom Parlament der Juli-Monarchie, biedere Ehrenmänner scheinbar, Bankiers, Politiker, Advokaten, Militärs, ein paar Gelehrte; unter dieser Hand aber eine Menagerie der Anmaßung, der Scheinheiligkeit, der Gier und der Niedertracht. Oder die donnernde Rhetorik eines Zola in diesem Film um die Affäre Dreyfus, die eine Hand zwischen den Rockknöpfen, die andere ins Publikum … Das sind die Bilder, sie kommen von selbst. Der Mann mit dem Streckverband aber paßte nicht hinein. Das war einer, wie man ihn alle fünf Minuten auf der Straße trifft, alltäglich, er ließ sich nicht zuordnen.
|325| Der Rest der Besuchszeit dehnte sich zäh. Christian unterhielt sich mit seinem Vater, sofern man das Unterhaltung nennen kann: die Sätze hingen in der Luft, standen nebeneinander wie die Wörter in einem Kreuzworträtsel, beziehungslos. Beide hatten das Gefühl, falsche Töne anzuschlagen; beide waren sie mit sich unzufrieden. Dann steckte die Schwester den Kopf zur Tür herein, Ende der Besuchszeit, Erlösung. Zacharias kam noch einmal herüber und verabschiedete sich. Professor Kleinschmidt sagte: »Spätestens in acht Tagen brenne ich durch. Ich habe die Medizin immer für eine Wissenschaft gehalten, aber das ist ja ein Handwerk. Die reinste Knochenflicker-Werkstatt.«
Es ergab sich, daß Zacharias und Christian zusammen das Zimmer verließen. Sie gingen nebeneinander den Korridor entlang, überall kamen Besucher aus den Zimmern. Fast alle gingen wie bei einem Zeremoniell; gemessen, verhalten, feierlich. Vor ihnen ging die alte Frau, die ihren beinamputierten Sohn besucht hatte; der blaugefärbte Gabardinemantel war ihr in den Schultern zu weit und an den Armen zu lang, er ließ sie älter erscheinen, als sie war.
Zacharias sagte: »Eine undankbare Sache, die Medizin. Jeder verlangt von den Ärzten ein Wunder, bloß weh tun darf ’s nicht.«
Christian nickte unbestimmt.
»Sie sind Student?« fragte Zacharias.
»Nein«, sagte Christian. »Bergarbeiter.«
Zacharias sah ihn von der Seite her an, überrascht, wie es schien. Als er aber Christians abweisendes Gesicht sah, dachte er: Nanu, etwa auch einer, der den Märtyrer spielt? Zu dumm, daß man den Professor nicht genauer kennt. Da ist immer diese dumme Selbsthemmung. Im Gespräch mit Arbeitern kommt man beinahe immer auch auf die Familie zu sprechen, die Kinder, und überhaupt: man fühlt sich sicherer.
Aber hier …
|326| Sie gingen zur Straßenbahn, aber es kam kein Gespräch zustande. An der Haltestelle verabschiedete sich Christian. Er wollte Zacharias los sein. Bis zum Connewitzer Kreuz ging er zu Fuß, fuhr dann nach dem Osten der Stadt. Er mußte jemand finden, mit dem er sich unterhalten konnte, frei von der Leber weg, einen, mit dem man die gleiche Sprache sprach. Er fuhr zu Pinselstein. Aber es war niemand zu Hause. Er nahm eine Taxe und fuhr zu Münz. Der alte Münz öffnete ihm. Sie kannten sich flüchtig – Münz schien sich aber nicht erinnern zu können. »Kleinschmidt«, sagte Christian. »Ist Roland zu Hause?« Der alte Münz wurde plötzlich lebhaft. »Kleinschmidt? Ja, richtig. Sie sind zusammen zur Schule gegangen, nicht?« Aber Roland war verreist, er käme erst am Dienstag zurück. Danke, bitte, auf Wiedersehen, schönen Gruß.
Wohin konnte er noch gehen? Er spielte mit dem Gedanken, zu Gabi Reinhard zu fahren. Aber er konnte sich nicht entschließen. Er ging ziellos durch die Stadt. Der Messetrubel störte ihn jetzt. Er kam sich klein und verlassen vor in der Menge. Überall gingen gutgekleidete Männer, Ausländer zumeist, stiegen aus ihren Autos – Christian sah an seinem Anzug herab, der überall zu eng und zu kurz wurde, er hatte das Gefühl, aufzufallen. Vor der leeren Wohnung graute ihm, vor den Fragen der Frau Selle; wie geht’s denn mit dem Herrn Professor, ist er gut untergebracht, so ein
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