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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Auktion Deutsches Reich und besetzte Gebiete.
    Gegenüber hing eine große Fotografie von Schloß Benrath. Im Bildvordergrund zehn, zwölf junge Mädchen, neugierig um den ausgestreckten Zeigefinger der Lehrerin versammelt. Während der Schulzeit, erinnerte sich Irene, hatte auch sie mit ihrer Klasse das Schloß besichtigt. Damals gab es noch die Fahnen, die träge im Hintergrund schlafften. Vielleicht war das gar ihre eigene Klasse, vielleicht war sie mit auf dem Bild? Aber sie konnte sich nicht entschließen, |346| aufzustehen und näher zu treten, übrigens war es auch allzu unwahrscheinlich.
    Endlich kam Martin. Kam in dem dunklen Anzug, in dem sie ihn in Erinnerung hatte; dabei trug er ihn eigentlich selten. Er sagte: »Das ist schön – ich habe dich noch gar nicht erwartet.« Mit der Geschwätzigkeit des Hotelpersonals hatte er offenbar nicht gerechnet. Er deutete mit einer komischresignierenden Geste auf den Betrieb ringsum und fragte: »Fahren wir?«
    Sie fuhren ein Stück durch die Altstadt, an Bauplätzen und Straßendurchbrüchen vorbei und über viele Umleitungen, verließen die Stadt dann flußaufwärts. Martin war froh, dem Hotel entflohen zu sein – in seinem Bericht über den Kongreß hatte er es mit einem Nebensatz abgefunden: eine ungelüftete Marmorgruft, die sich soeben zum elften Mal amortisiert. Marmorgruft war ein bißchen happig, er wußte es wohl, aber etwas Konfektionierteres war ihm nicht eingefallen. Immerhin war er guter Laune, und als sie den Lärm der Innenstadt hinter sich hatten, redete er unbefangen drauflos.
    »Diese Hobbyisten«, sagte er, »das ist ein lieblicher Verein. Der Hauptverkäufer des heutigen Tages, ein gewisser Dahlberg, war früher Sonderrichter im besetzten Belgien. Einer der größten Käufer aber, ein Belgier, war während der Okkupation Bürgermeister in just jenem Städtchen, in dem Dahlberg seine Zelte aufgeschlagen hatte. Natürlich kannten sie sich von früher, aber sie schienen das reineweg vergessen zu haben. Diskretion ist eben ein Wässerchen, an dem die Pflanzen dieses Landes alle gedeihen.«
    Irene fragte: »Seit wann interessiert sich denn die ›Westfälische Allgemeine‹ für Briefmarken?«
    »Ach«, sagte er, »das weißt du ja noch gar nicht. Vitzthum hat mir die Berliner Redaktion der ›Zeitbühne‹ angeboten. Er hat jetzt achtzigtausend Auflage, da kann man sich eine zweite Redaktion schon leisten. Das hier« – er deutete unbestimmt |347| hinter sich –, »das mache ich nur zur Überbrückung. Strenggenommen bin ich schon seit drei Wochen Berliner.«
    Irene steuerte den Wagen die Abfahrt zu Schmitz’ »Rheinterrassen« hinab. Berlin, dachte sie. Das erzählt er so nebenher. Dabei hat es eine Zeit gegeben, in der es nichts gab, das uns nicht beiden geschehen wäre. Berlin – es ist seine Geburtsstadt. Seit seiner Kindheit hat er sie nicht gesehen. Und von alldem sagt er kein einziges Wort. Sie fragte: »Und – wie gefällt es dir?«
    »Die Stadt? Na ja, ich weiß nicht. Man hat dort immer das Gefühl, daß der Krieg noch gar nicht recht vorbei ist. Oder daß er jeden Augenblick wieder anfangen kann. Dabei war ich noch nicht einmal im russischen Sektor. Die Menschen sind es nicht, die Berliner meine ich, auch nicht die alliierten Truppeneinheiten. Die stehen ja anderswo auch, im Taunus beispielsweise, obendrein viel augenfälliger und konzentrierter. Es ist irgend etwas in der Atmosphäre, das sich schwer bestimmen läßt.« Er unterbrach sich und sagte dann: »Übrigens, ich war zwar nicht im Ostsektor, aber ich habe einen getroffen, der dort wohnt. Bauerfeldt, er war während des Krieges in London. Er ist Maler, eigentlich mehr Grafiker, und Kommunist ist er, glaube ich, auch. Er fing dann auch sofort an, mich zu agitieren.«
    Strenggenommen, dachte Lewin, war es wohl eher umgekehrt. Ich habe ihn gefragt, er hat geantwortet. Was das eigentlich ist, habe ich gefragt: Sozialismus, Revolution, Arbeiter-und-Bauern-Staat. Und als er mir mit der Abschaffung der Ausbeutung kam und dem Brot für alle, da habe ich ihm gesagt, daß er mich mißversteht und daß ich diese Dinge durchaus nicht bezweifle. Aber wenn wir alle Brot genug haben, Wegzehrung für die Reise, wird dann der Weg zwischen Leben und Sterben gangbarer sein, der Tod geringfügiger? Und der Mensch, wird er unter einem Stalin weniger ausgesetzt sein, weniger grausam und weniger einsam als unter |348| einem Truman oder einer Elisabeth? Darauf hatte er keine Antwort. »Jaja die

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