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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Bücher – das alles war die wirkliche Welt, war das wirkliche Leben, man mußte es zur Kenntnis nehmen.
    Die wirkliche Welt – das war aber auch das übermütige Leben Vera Sprembergers und Fred von Cramms, Gerda Conradis, die immer noch mit dem jungen Orgas verlobt war, und Hilmar Servatius’. Ihren Reiz begann Irene gerade zu entdecken. Sie begriff selbst nicht mehr recht, was sie so lange in der Abgeschiedenheit gehalten hatte. Den Sommer über war sie für ein paar Tage mit Hollenkamp in Paris gewesen, danach hatten Orgas und Gerda Conradi sie und Hilmar Servatius zu einem Tennis-Cup nach Zürich eingeladen. Sie hatte eine Menge Leute kennengelernt, Sportler, deren Bilder die Illustrierten brachten, bekannte Schauspieler, Sänger, Musiker, erfolgreiche Ärzte, Anwälte und Geschäftsleute, die Söhne reicher Väter und solche, die Erfolg und Reichtum selbst erwarben, und fast alle waren ihr unkompliziert und sympathisch erschienen. Gewiß: manches war |344| übertrieben, und die aufdringliche Art, in der ihr beispielsweise dieser Sievers nachgestiegen war, damals in Zürich, war schon zu durchsichtig, als daß man sie noch ungezogen hätte nennen können. Aber einerseits war Sievers eine Randerscheinung, ein ehemaliger Luftwaffenoffizier, der sich nun als Tennistrainer verdingt hatte, und zum anderen: hatten diese Leute nicht ein gewisses Recht auf Überspitzung und Extravaganz, nach allem, was hinter ihnen lag an Kriegserlebnis, Tod und Nachkriegselend? Jedenfalls: Irene begann sich heimisch zu fühlen in ihrem neuen Bekanntenkreis, begann Gefallen zu finden an der ungezwungenen und unkonventionellen Lebensart.
    So war also Marie-Luisens Plan durchaus aufgegangen. Irene hatte ihn nicht durchschaut, im Gegenteil: ihr schien, daß Marie-Luise, von dem ungenierlichen Gehabe der jungen Leute im Innersten besorgt, der Geister, die in ihr Haus gedrungen, nicht eben froh wäre. Sie hatte auch die eine oder andere gezielt abfällige Bemerkung aufgefangen, etwa: dieser windige Orgas … oder: dieses hinreißend verrückte Fräulein Spremberger …; verschont davon blieb lediglich Hilmar Servatius. Das war nun allerdings ein gar feines Garn, gesponnen aus Marie-Luisens jüngsten Beobachtungen. Ganz im geheimen nämlich zog auch Irene ihn den anderen vor …
    Lewin, wie gesagt, war über alldem wenn auch nicht in Vergessenheit, so doch an den Rand des Geschehens geraten, ins Zufallslicht der Erinnerung. Gewiß: sie dachte an ihn, manchmal in verklärendem Imperfekt, manchmal im nüchtern-drängenden Präsens. Aber die Gegenwart beschwor den Vergleich herauf, und wieviel Jungmädchenromantik auch immer wieder aufbrechen mochte, zuletzt blieb doch stets die Realität des Hier und Jetzt, das Licht des neuentdeckten, bunt-fröhlichen Lebens ringsum – darin er, Martin, einen gar so düsteren, gar so nekromantischen Schatten warf. Vielleicht, wenn er in der Nähe geblieben wäre, hätte alles sich hinausgezögert, vielleicht sogar eine andere Richtung genommen. |345| Aber er selbst hatte den blauen Traumhimmel eingerissen, er selbst hatte die Hütten zerstört. Und auch wenn sie den Glanz des Gegenwärtigen abgetan hätte, die Gleichnisse gemieden: wäre dann nicht immer noch er es gewesen, der einfach davongelaufen war, der nichts gespürt und nichts begriffen hatte vor lauter eingebildeter Problematik? Die Liebe bedarf der Gegenwart, dachte Irene. Er hat sie in Wahrheit nie gesucht.
    Es ist aber eine dünne Decke, auf der sie da steht. Ein harmloses Telefongespräch – und da ist die Unruhe wieder, ein Quentchen Hoffnung, man ist sich selber leid dieser dummen Erwartung wegen – aber man hegt sie …
    Irene, als sie nun das Hotel betrat, war denn auch ganz und gar nicht die heitere Tochter dieses glücklichen Landstrichs, die sie gern gewesen wäre. Obendrein geriet sie in eine hektische Betriebsamkeit, rotgesichtige Männer eilten umher, schwitzende Jünglinge, sie stand recht hilflos zwischen Marmor, Plüsch und Goldleisten. Schließlich erbarmte sich ein Männlein in Operettenuniform, geleitete sie zum Empfangschef, auch der einer Sternheimschen Komödie entsprungen.
    »Herr Lewin? Der Herr hat schon zweimal nachgefragt.«
    Irgendwer flitzte los, Irene fand sich in einem kalten Ledersessel. Erst jetzt sah sie die riesige Werbegrafik, die quer durch die Hotelhalle gespannt war, langschwänzige gotische Buchstaben über eine Briefmarkenreihe hinweg: Internationaler Philatelistenkongreß – Verkaufsausstellung –

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