Rummelplatz
Nachbarmaschine, hatte es so aufgefaßt. Seit gestern waren sie unterwegs: Häring mit seiner Frau, die Papiersaal-Meisterin Albinus, der Heizer Quandt, ein älterer Holzplatzarbeiter aus dem Werk II, ebenfalls mit seiner Frau, und Ruth. Nur einer fehlte – der Genosse Nickel. Er hatte den letzten der acht Ferienplätze im FDGB-Heim »Ernst Schneller«. In Berlin hatte er zusteigen wollen – soviel Ruth wußte, wohnte seine Mutter dort. Aber bis jetzt war er noch nicht aufgetaucht.
Von einem der Liegeplätze her tutete eine Dampfpfeife, dann ein dreifacher Glockenschlag, dreifache dumpfe Antwort. Die Möwen strichen niedrig über die Ufer hin, kreisten über der See, schnappten Brotstückchen aus der Luft, die ihnen vom Fährschiff aus zugeworfen wurden. Neben Ruth saßen die Härings, auch sie fütterten die Möwen, sahen sich das Treiben an und das Meer, sie konnten nicht still bleiben dabei. Überhaupt: den Älteren war alles auf andere Weise neu und ungewohnt, das Meer, die Urlaubsreise, das Ferienheim. Mag sein: die Meisterin Albinus hatte bei den Nazis an einer ›Kraft-durch-Freude‹-Reise teilgenommen – die anderen aber gingen alle in ihren ersten wirklichen Urlaub. |351| Ruth nahm diese Reise bereits mit größerer Selbstverständlichkeit hin, um so größer aber war ihre Empfänglichkeit für die natürlichen Dinge, für das Meer, die Schiffe, die Küstenlandschaft, all die fremden Bauten und Gepflogenheiten, die die See hervorbringt. Ruth hatte immer im Gebirge gelebt, es war auch für sie der erste wirkliche Urlaub.
Die Fallreeps wurden eingezogen, das Fährschiff legte ab. Klingelzeichen, zweifach wiederholte Signale, langsame Fahrt. Dann der kunstvolle Bogen des Ablegemanövers als weiße Spur auf dem Wasser; die Sonne, die nun nicht mehr blendete hinter dem Heck; das anschwellende Grollen der Maschinen unter Deck und der Wind, der sich in die Kleider legte und ins Haar …
Ruth saß so, daß ihr die Aufbauten den Blick zum Land zurück verdeckten. Sie hatte nur die ferne Linie der Insel und das Meer. Eine Boje trieb vorbei, schlingerte leicht im Fahrwasser des Schiffes, voraus aber war die See blau und tief und ohne Fältchen. Geräusche waren wenig. Manchmal, wenn das Wasser blendete, verkniff Ruth die Augen, aber meist lag es blau und still. Ihr war, als sei sie allein auf dem Meer, die anderen waren weit hinter ihr; sie war allein mit der großen Weite und Helligkeit, unterwegs und voller Erwartung.
Auf den beiden Bänken links hatte sich eine kleine Gesellschaft niedergelassen, Vierziger und Fünfziger, mehr Männer als Frauen. Sie hatten einen Kasten Bier mitgebracht, tranken, lachten, unterhielten sich laut. Aber auch das störte nicht, Ruth freute sich an ihrer Fröhlichkeit, der Urlaub reichte für alle. Sie sah wieder auf das Meer hinaus, es gehörte allen, es gehörte ihr.
Am Horizont tauchte ein Pünktchen auf, wurde langsam ein Schiff. Ruth hatte oft am Strand des Steingrüner Bergsees gelegen, über das spiegelblanke Wasser gesehen, wenn ein Boot sich von irgendwo näherte und das gegenüberliegende Ufer sich in der Sonne verlor. Die Welt war dann groß |352| und verlockend und der Tag ohne Schatten. Genauso war es jetzt, nur größer, weiter, unendlich. Dieser Tag würde bestimmt nie zu Ende gehen, und wenn schon: zwölf andere, noch grenzenlosere, würden ihm folgen.
Das ferne Schiff, soviel war nun zu sehen, fuhr ohne Rauchfahne. Ein Motorschiff, aber ein sehr großes, mit drei oder vier Reihen Bullaugen übereinander. Es war ganz weiß.
Häring stieß sie an und sagte: »Sieh mal, wer da kommt.«
Es war Nickel. Er drängte sich durch den schmalen Gang zwischen den Bankreihen und der Reling, an der überall Menschen lehnten, sah sich immer wieder suchend um. Er entdeckte sie erst, als Ruth ihm zuwinkte. Er winkte zurück, kletterte über ein Halteseil, der nagelneue Vulkanfiberkoffer stieß an Aufbauten und Bänke.
»So was«, sagte Nickel. »Diese Kletterei. Ich dachte schon, ich finde euch nie.«
Sie rückten zusammen und machten ihm Platz. Er hatte in Berlin keine Platzkarte mehr bekommen und war vorsichtshalber einen Zug früher gefahren. In der Zwischenzeit hatte er sich das Städtchen angesehen und den kleinen Fischereihafen, seit morgens sieben Uhr. Er erzählte: »Die Häuser haben alle eine gedeckte Veranda, sogar die ganz kleinen. Da läßt sich’s wohnen. Und das Rathaus stammt noch aus der Zeit der Hanse, Störtebeker und so. Ich hab mir alte Schiffskanonen
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