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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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Todesangst, die Daseinsangst, die steckt in uns allen, die wir von draußen kommen.« Nein, das war keine Antwort. Die Katholiken haben ihre Muttergottes, der Islam seinen Mohammed, Vater hat den Jakob, den Abraham, die Gebeine Moses und die Erzmutter. Aber wir anderen? Wir leben im Fenster dessen, was wir tun, aber es ist blind und hat keine Aussicht. Wir wollen alle ständig fortgehen, von hier, von uns, von irgendwo, aber keiner weiß, was das ist: fortgehn …
    Er sagte nun: »Ich werde aber hinübergehen, in den russischen Sektor, man muß sich das wenigstens einmal ansehen. Außerdem müßte es doch möglich sein, drüben Mitarbeiter zu finden. Bauerfeldt wäre vielleicht schon einer, im Prinzip schien er nicht abgeneigt.«
    Irene sagte nichts. Immer das andere, dachte sie. Berlin, Vitzthum, Bauerfeldt, die »Zeitbühne« – für mich und für uns kein Wort. Warum ruft er mich denn überhaupt noch an? Sie ließ den Wagen auf den breiten Kiesstreifen vor Schmitz’ Terrassenrestaurant rollen und trat hart auf die Bremse. Sie wußte plötzlich, daß dies ein Abschiedsbesuch war. Es tat nun schon fast nicht mehr weh.
    Als sie aussteigen wollte, entdeckte sie Fred von Cramms Wagen. Sie ließ die Hand sinken. Drüben hatte Martin die Tür bereits geöffnet. »Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich habe eben Bekannte entdeckt. Wollen wir nicht doch lieber woanders hinfahren?«
    Er sah sie erstaunt an. »Aber warum denn?«
    Dann also auch noch dies, dachte sie. Es war nun schon alles gleich.
    Durch das Weinrestaurant gelangten sie in den oberen Garten. Der Betrieb war noch mäßig, gleich an einem der ersten Tische saßen sie: Vera Spremberger, Fred, Hilmar Servatius. Sie waren gar nicht zu verfehlen. Hilmar Servatius hatte sie auch sogleich bemerkt. Er stand auf, nun blickten auch die |349| anderen herüber. Irene legte die Hand leicht auf Martins Arm. »Komm«, sagte sie. »Gehen wir hinüber.«
     
    Das Fährschiff schien unbegrenzt Menschen und Lasten an Bord nehmen zu können. Es lag vertäut unter einem hohen Himmel, einem endlosen Blau zwischen den unerreichbaren Horizonten. Die Menschen fluteten über zwei Fallreeps heran, das Schiff nahm sie auf ohne Regung.
    Vor zwanzig Minuten hatte das Wasser, wenn man es von der Reling des Vorderdecks aus beobachtete, genau an der Grenze des braunen Rostanstrichs unter den Bullaugen gestanden; jetzt stand es noch immer dort. Die leere Streichholzschachtel achteraus trieb seit zwanzig Minuten in der gleichen Entfernung von der Bordwand, ohne sich zu nähern, ohne sich zu entfernen, ohne zu versinken. Die See war still und schläfrig, still war auch die Luft über dem Schiff. Der Qualm aus den beiden Schornsteinen stieg senkrecht auf und verschwand unauffällig sehr weit oben.
    Wenn man das Meer zum ersten Mal sieht, scheint es unvergleichbar. Voraus war die Stille vollkommen; vom Land her aber fluteten die Geräusche, ein unablässiger Strom wie aus einer Fabrikhalle, wenn sie plötzlich nach einer Seite offen wäre. Das Schiff war nun eine mächtige Maschine, die Kommandobrücke der Führertisch, die Reling das Geländer eines Laufsteges über die breite, weiße, flimmernde Bahn. Die Vibration unter den Deckplanken glich dem Summen der großen Hallen; der Lärm und das Füßegetrappel der an Bord Kommenden war ein Schichtwechsel; in jedem Fremden war etwas Vertrautes. Nur der Himmel bewahrte die Wirklichkeit und der behutsame Wind, das Meer zwischen den ungefähren Ufern.
    Ruth Fischer hatte ihren Koffer neben sich, für die knappe Stunde stellt man sich nicht erst am Gepäckraum an. Eine ganze Nacht Bahnfahrt lag hinter ihr und ein halber Tag, vom |350| südlichsten Zipfel des Landes zum nördlichsten. Sie sah auf das Meer hinaus, auf das ruhige Wasser zu ihren Füßen, sah hinaus zum schmalen Streif, wo der Himmel die See berührt, immer weniger sichtbar, je länger sie hinsah. Die Strapazen der Fahrt waren vergessen, die Enge des Abteils und die endlosen Nachtstunden im Halbschlaf: nun hatte der Urlaub wirklich begonnen.
    Gewerkschafts-Traugott hatte ihr seinen Platz im Ferienheim überlassen, er war erkrankt, konnte selbst nicht fahren: Ist zwar bloß Nachsaison, aber für dreißig Mark, da kann man’s schon mitnehmen … Traugott war unter denen gewesen, die Ruth nach ihrem Fiasko als erster Gehilfe am meisten geschnitten hatten. Sie trug es ihm nicht nach – gewundert aber hatte sie sich wohl. Es sah nach Wiedergutmachung aus – auch Häring, der Erste von der

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