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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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ist es aber vor Gott darum ein unrechter Mammon, weil man dem Nächsten damit nicht dient. Uns, meine Freunde, laßt also handeln nach dem Wort des Herrn, denn wer will wissen, ob Jesus nicht in Knechtsgestalt einhergeht unter euren Arbeitnehmern als der Geringsten einer? Wer will wissen, ob er nicht mitten unter uns weilt, uns zu prüfen durch seine Armut? Und steht nicht geschrieben über jene, die in das Himmelreich eingehen: Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist; Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt; Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet? Daran sollen wir denken. Das Geld und der Besitz dieser Welt sind das eigentliche Hindernis vor dem Himmelreich. Das ist unsere Weisheit, die uns von Gott offenbart ist, und wer sie nicht glauben will, der möge es lassen. Amen.«
    Das war ein befreiender Schluß. Gutermuth, aus dem Schläfchen erwacht, richtete sich auf mit einem Ruck – er war, was die Körpergröße angeht, ein außerordentlich großer Mann; zwei Meter und ein Zentimeter ragten jählings in die Höhe. Aber auch die anderen waren fast enttäuscht, als die Predigt nun schon beendet war.
    Hollenkamp betrachtete seine Männchen: eins war im Profil nach Ehrwürden geraten. Er überlegte. Dem Protokoll zufolge war jetzt die Opposition an der Reihe, und das überstanden, wie er wußte, nur die wenigsten munteren Geistes. Die Industrievertreter würden erst später eingreifen, und der Minister, glanzvollster Redner der Runde, sprach gar erst zum Schluß.
    Hollenkamp gähnte ein bißchen. Wieder einmal fand er, daß sein Amt wahrlich ein schweres sei. Gegenüber breitete |342| Nimmrodt seinen Mappeninhalt über den Tisch, begann Zahlenreihen herunterzubeten, er erregte sich gewaltig. Lieber Gott, dachte Hollenkamp, wen interessiert denn das? Die aufgekündigten Tarife betrafen die DCG in siebzehn Lohn- und drei Gehaltsgruppen, die geforderten Zuschläge bewegten sich zwischen neun und einundzwanzig Pfennigen. Sollen sie ihre neun Pfennige haben, dachte Hollenkamp. Und der Teufel soll mich holen, wenn ich das nächste Mal nicht einen Vertreter schicke. Mehr oder minder dachten das auch die anderen.
    Das große Gähnen war nun nicht mehr aufzuhalten. Es gähnte der große Menger, der mächtige Abt gähnte, der Minister gähnte, Hollenkamp gähnte herzhaft. Die Schulterschmerzen fielen ihm ein, und da hatte er sie auch schon. Erst Mittag, dachte er verzweifelt, und kein Ende abzusehen. Lieber Gott, laß Abend werden. Möglichst noch vorm Frühstück.
     
    Irene hatte Lewin über den späten Frühling und den Sommer hin nur selten gesehen und, erstaunlich genug, von Woche zu Woche immer weniger vermißt. Die Verzauberung, aus der fernen, sorglosen Kindheit so lange herüberbewahrt, war rissig geworden und bröckelte, mit ihr fiel langsam auch die Verklärung ab. Eine Veränderung ging in ihr vor, verwirrend und ihr selbst zunächst noch unbewußt, allmählich aber begann sie doch zu ahnen, anders zu fühlen – zu verstehen.
    Dabei ging ihr Leben, wenn man es nur von außen sah, scheinbar unverändert weiter. Sie behielt ihre Gewohnheiten bei, ihren Tagesablauf, fuhr zu Vorlesungen und Seminaren und ging in Konzerte, das Haar trug sie noch immer lang und offen, und noch immer nahm sie die Welt verwundert und staunend wahr, einmal aus der Übernähe, ein andermal aus allzugroßer Entfernung, wie Narren und Kinder tun und die Helden in den alten Märchen.
    |343| Aber zu den alten Dingen, den alten Gewohnheiten, waren unmerklich neue gekommen, und das Alte selbst erschien in einem immer anderen Licht.
    Gewiß, sie konnte den Pausengesprächen ihrer Kommilitonen, den manchmal belanglosen, heiteren, manchmal aber auch bitterernsten Studentendisputen noch immer zuhören wie einem Dialog auf einer imaginären Bühne; zwischen dieser Welt und ihrer Welt lag die Rampe, und sie, Irene, hatte mit den Vorgängen dort oben nicht allzuviel zu tun. Aber anders als früher kam ihr diese Welt nicht mehr so fremd, so unwirklich vor, sie begann innerlich Anteil zu nehmen und sah: all diese Sorgen um eine Anstellung in irgendeinem Archiv, einer Bibliothek, einem Verlag; das Tingeln in Kaffeehäusern, Tanzgaststätten und Dorfgasthöfen; der Alltag zwischen Broterwerb und Studium; ja auch der Ärger mit den Wirtinnen, denen das Gefidel und Geklimper der Herren Studiosi auf die Nerven ging; auch der Kinobesuch, das fehlende Straßenbahngeld, das Teppichklopfen, das billige Mensaessen und die teuren

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