Rummelplatz
ungefähr eine halbe Stunde unterwegs. Wahrscheinlich hat er warten müssen, bei Bierjesus ist immer Betrieb. Dennoch, die Möglichkeit besteht …
Am Abend, Christian schlief schon, kam Puffer in ihre Baracke. Er hatte Mittelschicht gefahren. Christian rieb sich die Augen, aber als er hörte, was geschehen war, war er sofort hellwach. Luftschläuche zerschnitten, und zwar während der Schicht. Puffers Maschine war stehengeblieben. Als er an die Schnittstelle kam, war niemand mehr zu sehen gewesen. Der Angriff erstreckte sich also über alle drei Schichten. »Es bleibt unter uns«, sagte Christian. »Wir kriegen das schon raus.«
Christian schlief unruhig. Aber in dieser Nacht geschah nichts. Als sie am Morgen einfuhren, trafen sie lediglich zwei Mann von der Seidel-Brigade, die drohend die Fäuste schüttelten. Spieß und Paule Dextropur warteten im Querschlag. »Alles klar«, sagte Spieß. »Es hat sich keiner blicken lassen.«
Während der Schicht hatte Christian eine Idee. Er beriet mit Loose. »Was meinst du, einer von uns drittelt um. Er bleibt über die Mittelschicht im Schacht und versteckt sich hinter dem Kompressor.«
»Mach ich«, sagte Loose.
»Gut, ich sage Fischer Bescheid. Morgen fährst du dann weiter Mittelschicht.«
Am Abend wartete Christian, bis Loose von der Schicht kam. Loose kam spät. Er hatte gewartet, bis der letzte Mann von der Mittelschicht aus dem Schacht war.
|377| »Nichts«, sagte er.
Auch in dieser Nacht geschah nichts, in der Frühschicht nichts, nichts in der Mittelschicht. In der folgenden Nacht aber fiel der Kompressor aus. Der Mechaniker erklärte, jemand müsse mit einer Brechstange an die Anschlußstutzen gegangen sein. Einer sei abgebrochen, an zwei anderen das Gewinde unbrauchbar gemacht. Drei Stunden Ausfall, bis ein neuer Kompressor geholt war. Der alte mußte in die Werkstatt.
Fischer mobilisierte die Parteigruppe. Aber nun geschah auf einmal nichts mehr. Christian hatte Loose noch zweimal hinter den Kompressor geschickt, umsonst. Auf die Dauer konnten sie diese Methode ohnehin nicht durchhalten, Loose fehlte in der Produktion. Immerhin: ihre Leistung war auch in dieser Dekade nicht schlecht. Einhundertzweiundfünfzig Prozent. Seidel hatte hundertsechzig.
Es vergingen zehn Tage. Die drückende Spannung ließ nach. Spieß und Krampe meinten: Sie haben aufgegeben. Auch Christian fand wieder etwas mehr Ruhe. Er überdachte die vergangenen Wochen, die Anspannung der Kräfte, die ungeklärten Zwischenfälle. Seit seinem Gespräch mit Polotnikow waren kaum zwei Monate vergangen. Alles in allem erfolgreiche Monate.
Erfolgreiche Monate? Um wessen Erfolg handelte es sich denn? Wahrhaftig: in der Ereignisfülle dieser Wochen hatte er jeden Vorbehalt vergessen, war eins geworden mit den Taten und Handlungen, die nicht er allein auslöste und die nicht ihm allein zukamen, war tatsächlich Jugendbrigadier geworden, erster und bislang einziger auf dem Schacht. Er hatte die Brigade aufgebaut, hatte sein FDJ-Mitgliedsbuch hervorgekramt – seit der Schulentlassung hatte er keinen Beitrag mehr bezahlt –, sie hatten Nothnagel zum Gruppenleiter gewählt und pro forma eine Versammlung gemacht. Außer Spieß, Loose und einem der Neuen waren sie alle in der FDJ. Für Christian war klar, daß der Jugendverband für die meisten |378| ein notwendiges Übel war und die Mitgliedschaft eine reine Formsache, ausgenommen vielleicht Puffer, höchstens noch Nothnagel, sie hatten beide am Deutschlandtreffen teilgenommen und wollten im kommenden Jahr unbedingt zu den Weltfestspielen fahren. Puffer schien aus Überzeugung Mitglied geworden zu sein. Und Nothnagel? Auf jeden Fall war er immer noch besser als der schleimige Mehlhorn. – Ja, Christian hatte die Brigade aufgebaut, und oben an der Prozenttafel konnte jeder nachlesen, daß die Zeka-Leute nicht von schlechten Eltern waren. Für alle anderen im Schacht aber waren die Zeka-Leute identisch mit der FDJ. Hatte Christian das gewollt?
Er stellte sich diese Frage nicht. Noch nicht. Was ihn hinderte, war dieses Gefühl, sich selbst untreu geworden zu sein. Jene Scheu, die Veränderung, die durch die eigene Tat bewirkt war und täglich durch neue Tat bekräftigt wurde, innerlich anzuerkennen. Aber die Tat hat den Gedanken voraus und zieht ihn nach sich, ein unablässiger Wechsel, ein Wirkwerk mit sichtbaren Maschen und sehr vielen unsichtbaren. Ein Stückchen war Christian sich selbst voraus, aber er war keiner von denen, die es fertigbringen,
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