Rummelplatz
– Das war Christians zweiter Irrtum, unwahrscheinlicher als der erste: Loose hatte tatsächlich zugesagt, und er fand nicht einmal etwas dabei. Er sagte: »Der Alte hat mir erzählt, es wird eine neue Brigade aufgemacht, nur junge Leute. Du würdest auch mitmachen.« Er sah Christian fragend an. »Ist da was faul? Machst du etwa nicht mit?«
»Doch«, sagte Christian. »Ich bin der Brigadier.«
Den Überkopflader setzten sie noch in der gleichen Nacht um. Für lange Debatten war keine Zeit; sie hatten nur drei Wochen. Am Morgen des dreizehnten begannen sie die Strecke aufzufahren. Christian und Peter fuhren die erste Doppelschicht. Nach der Frühschicht trafen sie sich zur ersten Brigadebesprechung. Sie saßen in der Steigerbude, Christian, |372| Peter Loose, Christians Fördermann Spieß, Paule Dextropur und drei Mann von den Nachbarblöcken. Einer war neuangeworben, Puffer, Schlosser von Beruf. Dazu Krampe, Junghäuer aus der Steinkohle, der der höheren Löhne wegen zur Wismut gekommen war, und Nothnagel, Abiturient wie Christian, einseinundneunzig groß. Sie saßen in der Steigerbude und sahen sich an, sahen vor allem erwartungsvoll auf Christian, der das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen. Es fiel ihm aber nichts ein. So fand Paule Dextropur schließlich, daß der dreizehnte wirklich kein Tag für eine Brigadegründung sei, man könne das andermal nachholen. Vor allem müsse das bevorstehende Ereignis erst einmal ausgiebig begossen werden.
Leider ging auch das nicht, Spieß und Krampe hatten Mittelschicht. Zum Glück fiel ihnen ein, daß sie einen Brigadenamen brauchten. Paule Dextropur hatte einen bei der Hand: Brigade ›Scharfer Stoß‹. Aber die anderen grienten so lange, bis er seinen Vorschlag selber blöd fand. Nothnagel meinte, soweit er das erkennen könne, müsse eine Brigade einen idiotensicheren Namen haben, ›Roter Oktober‹ beispielsweise oder ›Erster Mai‹. Puffer schlug ›Glorreicher Januar‹ vor, das habe mit dem Plananlauf zu tun und stünde täglich in der Zeitung. Spieß war mehr für berühmte Männer, Budjonny oder Sven Hedin. Loose fragte, ob es nicht auch eine berühmte Frau täte, der Iwan sei nun mal für Gleichberechtigung. Er fand aber außer Big Ella Fitzgerald nur noch Anna Seghers. So vertagten sie auch diesen Punkt.
Der Name fand sich dann von selbst. Das kam daher, weil der Maler oben an der Prozenttafel das C von Christian und das K in riesigen Lettern gepinselt hatte, das ›leinschmidt‹ aber unleserlich klein. Von da an hießen sie ›Zeka-Brigade‹.
In der ersten Woche wurde die Zeka-Brigade, die ›Komplexhüpfer‹, wie sie auch genannt wurden, belächelt und bespöttelt. »Macht nichts«, sagte Christian. »Die werden noch Augen machen.« Er war optimistisch. Von den zweihundert Metern, die sie aufzufahren hatten, brachte jede Schicht gute |373| zwei Meter. Sie arbeiteten nach Fischers Bohrschema; Christian knobelte an einem neuen Zyklus. Sie spielten sich aufeinander ein ohne größere Schwierigkeiten, ohne Reibungen, jeder gab sein Bestes; sie wußten, daß sie sich beweisen mußten. Nach der ersten Dekade standen sie an der Prozenttafel im Schachthof hinter der Brigade Seidel an zweiter Stelle – ihr Rückstand zu Seidel betrug fünfzehn Prozent, mit zwanzig Prozent führten sie vor den nächsten.
In der Kantine gab der schöne Fadenschein die Lebensweisheiten seines Abstauberdaseins zum besten: Neue Besen kehren gut. Der schöne Fadenschein war harmlos. Die weniger Harmlosen rempelten Christian auf der Hängebank an, als niemand von seinen Leuten dabei war. »Lohndrücker! Russenknecht!«
Christian merkte sich die Gesichter. Es ist gut, den Gegner zu kennen. Er wußte noch nicht, daß auch diese Leute nicht die wirklich Gefährlichen waren. Die wirkliche Gefahr ist schweigsam.
Nach der zweiten Dekade lagen sie nur noch mit elf Prozent hinter Seidel. Der tiefste Punkt der fallenden Umgehungsstrecke war erreicht, die Verpflichtung, die Christian gegenüber Polotnikow eingegangen war, erfüllt. Jeder in der Zeka-Brigade glaubte an eine Atempause, an Anerkennung, an Prämie.
Als sie am Lohntag nach der Schicht in der Küchenbaracke saßen, kam Seidel. Er pflanzte sich vor ihren Tisch, das schweißige Arbeitshemd war bis zum Gürtel offen, er hatte die Hände in den Hosentaschen und sagte: »Ihr wollt also Krieg?«
Sie sahen einander an, Christian, Peter Loose, Krampe und Nothnagel. Bis Loose seinen Teller zurückschob und die Fäuste auf den
Weitere Kostenlose Bücher