Rummelplatz
überhaupt war es schwierig für ihn, sich vorzustellen, daß er Ruth etwas schenken könne.
Sie hatte den Alten inzwischen gefragt, ob man den Leuchtturm besteigen könne. Nickel wußte bereits, daß das Leuchtfeuer schon vor zwanzig Jahren stillgelegt worden war; der Turm diente den Sommerfrischlern als Aussichtsturm. Der Alte gab ihnen den Schlüssel und nahm ein Zweimarkstück dafür. Der Junge hatte die ganze Zeit still neben der Tür gesessen, gesagt hatte er nichts.
|369| Es war dunkel im Turm und roch nach Keller und Moder und mürbem Holz. Die Treppe führte im Bogen aufwärts, unter niedriger Decke, durch die Krümmung war sie immer nur drei, vier Meter voraus sichtbar. In großen Abständen waren kleine Fenster in die Mauer eingelassen, blind und staubig, einige zerbrochen; auf einem Zwischenboden hob das Licht einen unverputzten Stein aus dem Mauerwerk mit der eingehauenen Jahreszahl 1847. Sie stiegen aufwärts. Nickel stieg voran, stieg in einem kühlen, muffigen Luftzug, griff in Stohklumpen und Vogelkot. Dann wurde die Stiege enger, wurde schließlich von einer Falltür versperrt. Nickel brauchte eine ganze Weile, bis er herausfand, wie sie zu öffnen war. Sie kamen nun in das runde obere Turmzimmer, dessen Fensterreihe sie von unten gesehen hatten. Nach oben führte eine schmale Holzstiege in die Kammer, die früher die Vorrichtung für das Blinkfeuer beherbergt hatte, an der Einstiegluke rostete ein Vorhängeschloß.
Es war nach dem Aufstieg sehr hell. Vor den Fenstern hing der niedrige Himmel, und wenn man nach der Seeseite hinabblickte, war es, als stiege der Turm unmittelbar aus dem Meer auf. Das Meer hatte weiße Kämme, und voraus wußte man nicht, wo es aufhörte und wo der Himmel begann.
Nickel stand und träumte sich eins. Ruth war neben ihm, war sehr nahe, sie sah hinaus und sah die Wolken ziehen, wohin ziehen sie?
Er aber blickte in sich hinein, und solange einer damit beschäftigt ist, geschieht nichts. Er ging in sich, und was er da zu sehen bekam, das mußte in dieser Umgebung natürlich seelenvoll stimmen, herztausig, hochsinnig, innig.
Wer weiß, wie lange er noch so gestanden hätte, irgendwohin blickend, während es aussah, als betrachte er die Gegend rings, wer weiß das. Aber Ruth hat auf einmal die Hand auf seinen Arm gelegt, und er kommt nun zurück. Er dreht ihr sein Gesicht zu, und sie stehen eine Weile ganz still, dann küssen sie sich. Viel später erst sehen sie sich an, und sie reibt |370| die Nase ein bißchen an seinem Mantelkragen und sagt: »Na, du?«
Darauf gibt es keine Antwort. Sie betrachtet sein Gesicht, als müßte sie es sich für immer einprägen: die grauen Augen, die unbeholfenen Lippen, das wirre Haar und das Kinn, das vielleicht ein bißchen zu weich ist für so einen Jungen. Seine Hand liegt auf ihrer Schulter, fühlt den rauhen Stoff ihrer Jacke, und auch er sieht jetzt: Augen, Mund, die sanfte Linie des Halses, und das Haar, in dem noch ein paar winzige Wassertröpfchen hängen, abgestreift von den Büschen, unter denen sie gegangen sind.
So stehen sie sehr lange.
Später, beim Abstieg, geht er wieder vor ihr. Sie kann sein Gesicht nicht sehen – aber er ist in diesem Augenblick genau so, wie sie ihn sieht, und wie sie ihn noch sehr lange sehen wird. Ihr ist leicht zumute und froh, und sie schließt ganz schnell die Augen und drückt beide Daumen und wünscht sich, daß es so bleiben möge, nun und immer.
Abergläubisch ist sie natürlich nicht, woher denn. Oder höchstens ein ganz kleines bißchen.
|371| XIII. Kapitel
Christian Kleinschmidt hatte sich geirrt: Fischer hatte weder seinen Plan aufgegeben, noch hatte er hinter Christians Rücken Meldung gemacht. Als Christian den Auftrag für die Umgehungsstrecke annahm, gab es tatsächlich noch keine Jugendbrigade, auch nicht auf dem Papier, und Polotnikows Frage war wirklich eine Frage gewesen, kein hinterhältiges Manöver. Allerdings hatte Fischer in aller Stille mit dem und jenem gesprochen. Und als Christian zu ihm kam in seiner Ausweglosigkeit und seiner Wut, sagte er nur ganz sachlich: »Hast dir’s überlegt? Gut. Ich hab da eine Liste. Stehen alle drauf, die mitmachen würden. Such dir raus, wen du brauchen kannst.«
Zu Christians Überraschung stand auf dem Zettel an oberster Stelle der Name Peter Loose.
Christian war zu Loose gegangen, ungläubig, er hielt das Ganze noch immer für eine abgekartete Sache. Loose und Jugendbrigade – da steckte ein Schwindel dahinter, klarer Fall.
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