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Rummelplatz

Rummelplatz

Titel: Rummelplatz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Bräunig
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ein Leben lang sich selbst nachzulaufen.
    Immerhin: die Tat war sichtbar, sie war dringlich, sie fiel auf. In der Parteizeitung des Bezirkes erschien ein Bericht über die Jugendkomplexbrigade Kleinschmidt. Christian hatte keine Ahnung, wer die Zeitung informiert haben könnte. Er tippte auf Fischer. Der Bericht machte die FDJ-Kreisleitung mobil: Im Schachthof erschienen Plakate, die dazu aufforderten, der Brigade Kleinschmidt nachzueifern. Nothnagel hatte ein längeres Gespräch mit dem Kreissekretär.
    Die neuen Ereignisse verdrängten die alten. Von den Sabotageakten war seltener die Rede. Christian glaubte nun doch langsam, daß Seidel mit den zerschnittenen Schläuchen zu tun hatte. Er war bereit zu vergessen. Vierzehn Tage lang |379| hatte sich nichts ereignet. Waffenstillstand? Kapitulation? Unnütze Grübeleien. Die Arbeit beanspruchte all ihre Kräfte. Sie waren in das wasserführende Gestein gestoßen, troffen vor Nässe, die Firste tröpfelte, tropfte, ein wahrer Regen. Und die Arbeit war gefährlich, das Gebirge mürbe, man wußte von uralten, verschütteten Gängen aus der Zeit des Silberbergbaus, fand sie auch, aber sie endeten unvermutet, nur das Wasser blieb. Ihre Leistung sank auf einhundertzwanzig Prozent, dann auf einhundertacht. Die Stimmung war miserabel.
    Als sie an die Zwischenfälle der ersten Wochen schon gar nicht mehr dachten, geschah es. Christian saß mit Spieß und Nothnagel in der Lagerkantine. Auch Mehlhorn hatte sich zu ihnen gesetzt. Da kam Krampe hereingestürzt, völlig außer Atem, das Haar hing ihm wirr in der Stirn. »Loose«, keuchte er. »In der Sani-Baracke. Sie haben ihn zusammengedroschen!«
    Sie rannten zur Sanitätsbaracke. Der Lagersanitäter versperrte ihnen den Eingang. Vor der Tür parkte ein Jeep, der Äskulapstab klebte auf der Frontscheibe. »Warten«, sagte der Sanitäter. »Der Doktor ist eben gekommen.«
    Sie warteten lange. Dann kam der Arzt, ein junger Mann noch, musterte sie abschätzend. »Ist Herr Kleinschmidt hier?« Christian meldete sich. »Kommen Sie rein«, sagte der Arzt finster. Die anderen wurden nicht eingelassen.
    Das winzige Ambulanzzimmer roch durchdringend nach Äther.
    »Sie sind mit ihm befreundet?« fragte der Arzt.
    »Ja.«
    »Wissen Sie, wer es gewesen sein könnte?«
    Christian schüttelte den Kopf.
    »Irgendwas müssen Sie doch wissen. Hat er Streit gehabt? Weibergeschichten?«
    Streit? Das lag über ein Jahr zurück. Der Mann mit dem tätowierten Handrücken. Auch die Sache im Jugendheim lag |380| ein halbes Jahr zurück. Und Ingrid, das Mädchen aus der Bahnhofskneipe? Das alles war lange her, es war schon nicht mehr wahr.
    »Nein«, sagte Christian. »Ich wüßte nicht. Es ist nur … « Der Arzt blieb vor ihm stehen. »Es ist … Wir haben eine Jugendbrigade. Irgendwer hat uns die Luftschläuche zerschnitten, den Kompressor … Vorigen Monat.«
    Der Doktor ging auf und ab, steif, abgezirkelt, drei Schritt vor, drei Schritt zurück. Wie in einer Gefängniszelle.
    »Ist es … schlimm?« fragte Christian.
    »Ein ordentliches Loch im Kopf. Platzwunde, fünf Zentimeter. Hoffentlich kein Schädelbruch. Wenn der Kerl ein bißchen stärker zugeschlagen hätte … Wissen Sie denn wirklich nichts?«
    Christian zuckte die Achseln. Warum gerade er, dachte er, warum gerade Loose. Er hat doch nur mitgemacht, weil es eben etwas Neues war, ein Abenteuer. Höchstens noch, weil es gegen die Alten ging. Warum gerade er. Warum nicht ich, oder Puffer, oder Nothnagel? Mit mir hätten sie es leichter gehabt. Mit jedem von uns. Oder ist das nur der Anfang?
    Draußen bremste ein Wagen. Die Polizei.
    Die anderen wurden hereingebracht. Sie mußten im Nebenzimmer warten, auch Christian. Dann wurden sie einer nach dem anderen einzeln verhört.
     
    Peter Loose wurde noch am gleichen Abend ins Krankenhaus überführt. Der Sanka fuhr mit Blaulicht und Martinshorn; Peter hörte es nicht. Die Zeit war stehengeblieben. Als sie aber stehenblieb, in jenem Sekundenteil, war ein Erinnerungsstück vorausgeeilt, das später, als sie wieder in Gang kam, nicht mehr eingeholt werden konnte. Sie kam nur zögernd in Gang, streifte das Bewußtsein, ließ von ihm ab und berührte es erneut, in wechselnder Intensität und Wirkung. Da wurden leise Stimmen schmerzhaft laut und laute unhörbar, Gegenstände erschienen und zergingen, Dinge wechselten |381| die Farbe, Farben die Kontur, und als die Umrisse schon gewisser waren, weigerte sich die Bewegung, versagten noch immer die

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